Der gefährliche Weg nach Europa
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Sonntag, 18. Dezember 2022

Der gefährliche Weg nach Europa

Es sind Bilder, die Sie spätestens seit dem Jahr 2015 kennen: Flüchtlinge drängen sich an den europäischen Grenzen, werden aus dem Wasser des Mittelmeeres gefischt oder stehen in Aufnahmezentren in Deutschland Schlange. Bis zum Ukrainekrieg fiel dabei eines auf: Es handelte sich überwiegend um junge Männer. Frauen oder gar Kinder waren selten darunter.

Da konnte schon der Eindruck entstehen: Da flüchten nicht die Schwächsten, Ärmsten und Bedürftigsten aus Afrika oder aus Kriegsgebieten des Nahen Ostens; denn das sind eher die Alten, Kranken, Kinder und Frauen; sondern es flüchten die Stärksten und Kräftigsten.

Die Statistik gibt diesem Eindruck teilweise recht: Erwachsene junge Männer sind die größte Flüchtlingsgruppe, die nach Europa kommt.

2022 waren 63,5 Prozent der Asylbewerber in Deutschland männlich. Am stärksten war das in der Altersgruppe zwischen 16-30 Jahren ausgeprägt, wo ca. 75 Prozent der Registrierungen auf Männer entfielen. Zwar machen Kinder unter vier Jahren die größte Gruppe aus – 21,6 Prozent – doch folgen danach die 18 bis 25 Jährigen mit 17,8 Prozent. 46 Prozent der Asylbewerber sind zwischen 18 bis 40.

Das hängt schon mit den Fluchtrouten zusammen: Es sind junge Männer, auf der Höhe ihrer physischen Kraft, die eine Chance haben, den lebensfeindlichen Weg zu schaffen.

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Schätzungsweise 938 Menschen haben von Januar bis August 2022 die Überfahrt übers Mittelmeer nicht überlebt

Ein Meer aus Sand

In der Öffentlichkeit wird viel über Flüchtlingsboote im Mittelmeer gesprochen. Denn dort treten die Menschen ins Blickfeld der europäischen Kameras. Und aus den Anrainerstaaten des Mittelmeeres stammen auch die meisten Geflüchteten, die aus dem Süden kommen: So werden von der EU 8,3 Prozent der Grenzübertritte durch Tunesier registriert; Länder wie Somalia oder die Elfenbeinküste machen dagegen nur 1,7 bzw. 2,1 Prozent aus. Denn Tunesier, Marokkaner oder Algerier müssen „nur“ das Mittelmeer überwinden. Für die Menschen aus dem Inneren Afrikas dagegen liegt vor dem Meer aus Wasser noch ein Meer aus Sand: die Sahara.

Hunderte Kilometer weitgehend unbewohntes, sonnenverbranntes Gebiet, bei bis zu 58°C Außentemperatur. Allein die Natur ist ein Hindernis. Viele Menschen sterben auf dem Weg dort an Durst, Hunger oder fehlender medizinischer Versorgung.

Wie viele, das lässt sich nur schwer beziffern, da Todesfälle dort kaum registriert werden. Schmuggler, Menschenhändler oder staatliche Akteure; sie alle kontrollieren Teile der Fluchtrouten und haben kein Interesse daran, Daten zu erheben. Laut vorsichtigen Schätzungen der UN in einem Bericht von 2020 sind alleine in den Jahren 2018 bis 2019 mindestens 1.750 Personen auf den Routen durch die Sahara verstorben.

Der Mensch ist des Menschen Wolf

Doch selbst wer mit den widrigen Naturumständen klarkommt, dem drohen genug Gefahren durch andere Menschen.

Vor allem auf den Routen durch die Westsahara wird von physischer Gewalt gegen die Flüchtlinge berichtet. Mehr als die Hälfte der bekannten Fälle ereignete sich in Mali, gefolgt von Burkina Faso. Auch die Grenzregionen zwischen Niger und Libyen gelten als gefährlich. Dort sind nach Angaben des UN-Flüchtlingswerkes die meisten auf dem Weg nach Europa gestorben.

Flüchtlinge berichten auch immer wieder von Menschenhandel, schwerer körperlicher Misshandlung oder Entführung entlang der Routen. Das gilt vor allem für die Gebiete der nordafrikanischen Länder sowie am Horn von Afrika. Frauen werden vor allem sexuell ausgebeutet, Männer in die Zwangsarbeit verschleppt.

Besonders die wenigen Frauen und Mädchen, aber auch Jungen und Männer sind sexuellen Übergriffen ausgesetzt. In Nord- und Ostafrika sind die Täter meistens Kriminelle und Schmuggler; in Westafrika hingegen Soldaten, Polizisten und andere Sicherheitskräfte, auf die ein Viertel der Übergriffe entfiel.

Laut UN-Angaben gab es 2021 weltweit fast 90 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind: davon 48 Millionen Binnenvertriebene und 30,3 Millionen internationale Flüchtlinge. Davon sind 5,7 Millionen Flüchtlinge aus Palästina und 3,9 Millionen Venezuelaner im Ausland. Lediglich 4,1 Millionen weitere Flüchtlinge sind als Asylsuchende registriert. Seit 2012 hat sich die Zahl der Flüchtlinge weltweit mehr als verdoppelt.

Europa schneidet sich ins eigene Fleisch

Die europäischen Länder sind in dagegen in einer komfortablen Situation. Im Westen liegt der Atlantische Ozean, im Norden der Polarkreis, im Süden das Mittelmeer und die Sahara, im Osten die Weiten Sibiriens und Meerengen. Die Geographie hält so die meisten Flüchtlinge fern.

Dabei braucht Europa Zuwanderung, wenigstens wirtschaftlich gesehen. Die Gesellschaft in den westlichen Industrieländern wird immer älter; die einheimische Bevölkerung hat zu wenig Kinder, um den Bedarf der Wirtschaft nach Arbeitskräften zu decken. Laut Studien müssten, um einem Arbeitskräftemangel langfristig vorzubeugen, jedes Jahr 3,5 Millionen Menschen nach Deutschland einwandern.

Daher schneidet sich Europa mit seiner Migrationspolitik ins eigene Fleisch. Es zwingt Menschen, die in Europa arbeiten und leben wollen, Wege auf sich zu nehmen, auf denen sie mit massiver psychischer und physischer Gewalt konfrontiert sind. Diejenigen, die es bis nach Europa schaffen, erleiden meistens schwere Traumata und sind mit langfristigen psychischen Problemen konfrontiert. Die Menschen, die es nach Europa geschafft haben, wären viel leichter zu integrieren, hätte man sie nicht jener zynischen Auslese durch den strapaziösen Weg und dessen Folgen unterworfen.

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Flüchtlinge aus Afrika südlich der Sahara machen nur einen kleinen T eil der illegalen Grenzübertritte in die EU aus (Angaben in Prozent)

Worüber sprechen wir?

In Europa wird vor allem darüber diskutiert, wie mit den Menschen umgegangen werden muss, die es in die EU geschafft haben oder in Flüchtlingsbooten im Mittelmeer aufgefunden werden.

Teilweise wird auch noch in der politischen Rhetorik über die Fluchtursachen gesprochen. Freilich, die Rhetorik ist hohl. Denn die grundlegende Fluchtursache ist das Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Afrika. Ein Gefälle, das in den vergangenen 200 Jahren entstanden ist, als Europa begann, einen beeindruckenden wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt hinzulegen. Ein Fortschritt, von dem viele Staaten der Welt, auch in Afrika, zwar profitieren, doch nicht in gleichem Maße. Und es steht nicht zu erwarten, dass sich dieses Wohlstandsgefälle in den nächsten 100 Jahren auflösen wird.

Selten hingegen wird über den Schutz der Menschen auf den Fluchtrouten gesprochen oder über die Möglichkeit, Wege für legale Zuwanderung zu schaffen. Dabei könnte dabei auch die Frage diskutiert werden, welche Gesichtspunkte für eine solche Zuwanderung gelten könnten. Würde Europa etwa wirtschaftlich wie menschlich davon profitieren, jungen Frauen eine Chance zu geben, die sie in ihrem Heimatland wegen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umstände nicht haben?

Bis dahin bedarf es aber einer gemeinsamen Anstrengung von Hilfsorganisationen und der beteiligten Staaten, um die Menschen, die auf den Fluchtrouten unterwegs sind, vor den Missbräuchen zu schützen, denen sie dort ausgesetzt sind. Bis dahin bildet die menschenfeindliche Weite der Sahara, die kriminellen Banden und zerfallenden oder korrupten staatlichen Strukturen für Europa ein erweitertes Abschreckungsfeld. Es bleibt die Frage, ob Europa dieses Abschreckungsfeld und die damit einhergehende Auslese weiterhin wünscht.

Fotos

Header-Bild: Youtryandyoutry (Wikimedia Commons)

Flucht Boot: Gerd Altmann (pixabay)