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Orientierung
Donnerstag, 19. Mai 2022
Vom Bedeutungswandel des Bettelns

Penner, Taugenichts, Mitmensch

Es ist fast schon üblich geworden. Am Frankfurter Hauptbahnhof, man sitzt in der S-Bahn, tritt ein Mann durch die Tür: abgetragene Schuhe, abgewetzte Kleidung, ein Rucksack auf den Schultern, das Haar zerzaust. „Entschuldigen Sie bitte die Störung“; er wirkt routiniert, „hätten Sie etwas Kleingeld für einen unschuldig in Not Geratenen? Auch Pfandflaschen oder etwas zu essen hilft mir.“ Alle und niemanden ansprechend geht er schlurfend durch den Gang der S-Bahn. Die Fahrgäste blicken konzentriert auf ihr Handy oder wenden den Blick zum Fenster. „So obdachlos sehen Sie aber gar nicht aus!“, bemerkt eine Frau Mitte fünfzig. Der Bettler reagiert nicht, sondern schlurft weiter; bei der Frau gibt es für ihn ohnehin nichts zu holen. Solche und ähnliche Szenen gehören zum Alltag in vielen deutschen Großstädten. Bettler und Obdachlose, das wird häufig in eins gedacht. Dabei muss das nicht sein. Ein Bettler muss nicht obdachlos sein und ein Obdachloser muss nicht betteln. Überhaupt, betteln tun auch viele andere: Viele kennen etwa die als Bettelbriefe bezeichneten Spendenaufrufe. Sie werden in der Regel nicht von Leuten geschrieben, die unrasiert am Straßenrand sitzen.

Betteln, fast ein Beruf

Das verweist auf den ambivalenten Charakter des Bettelns. In vormodernen Gesellschaften waren Armut und Betteln in allen Kulturen anerkannte Lebensformen. Das fing schon mit religiösen Gemeinschaften an: Fromme Pilger erbettelten sich häufig ihr Brot und die Schlafstatt, wenn sie nach Rom oder Santiago zogen. Und Orden wie Dominikaner oder Franziskaner heißen nicht umsonst Bettelorden. Abgesehen von diesen Religiösen gehörten aber die Bettler in keiner Gesellschaft zu den Ehrbaren. Sie waren keine Menschen, mit denen man einen Vertrag abschloss, sie nahmen nicht an Wahlen teil und durften nicht als Soldaten für ihre Gemeinde in den Kampf ziehen. Aber sie waren in das soziale Geflecht einbezogen: Viele Städte unterschieden etwa zwischen einheimischen Bettlern, die sie mit einer eigenen Marke ausstatteten, und Fremden, die sich nur kurzzeitig in der Stadt aufhalten durften.

Das war wichtig, denn die Konkurrenz war groß. In vielen Städten des Hochmittelalters dürften bis zu 5 % der Menschen hauptberufliche Bettler gewesen sein; teilweise 20 % gingen nebenerwerblich der Bettelei nach. 

Möglich, weil durchaus einträglich, war das aus zwei Gründen, die besonders in Städten zusammenkamen: Der Anhäufung von Kapital, gerade im Handels- Bürgertum, und der mittelalterlichen Frömmigkeit, in der Almosen geben dem Seelenheil diente. Laut Thomas von Aquin ist das Almosengeben ein Gebot, zu dem die Nächstenliebe verpflichtet: „Den Nächsten aber sollen wir nicht nur mit der Zunge und in Worten lieben, sondern im Werke und in der Wahrheit“ (Summa Theologica II,II, 32,5). Durch das Almosen bekam der Spender also etwas transzendental Handfestes zurück, einen Schatz im Himmel. Und in dieser Perspektive konnte der Bettler auch etwas zurückgeben, nämlich sein Gebet.

Betteln, ein Prinzip

Die professionellsten Beter unter den Bettlern waren die Medikanten, die Bettelmönche. Sie sahen es als ihre Aufgabe an, den Glauben aktiv zu verkünden. Ihre Zentren hatten sie daher in den Städten. Einer Erwerbsarbeit konnten sie aufgrund ihres Aufgabenprofils nicht nachgehen. Besitz lehnten sie ab. Es blieb das Einsammeln von Spenden, also Betteln.

Egal ob freiwillige oder unfreiwillige Armut: dass Menschen auf Almosen angewiesen waren, gehörte im vormodernen Europa zur gesellschaftlichen Normalität und wurde auch gar nicht an sich kritisiert. Pries die Bibel doch den Armen als einen Menschen, an dem Gott besonders gelegen war. Und auf seine Weise trug er zum spirituellen Sozialgefüge der Gesellschaft bei.

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Die Kapuziner gehören zu den Gemeinschaften, die ihren Lebensunterhalt erbettelt haben; im Unterschied etwa zu den Benediktiner, die für ihr Einkommen in Wirtschaftsbetrieben arbeiteten

Der Bettler, ein Taugenichts?

Dieser ambivalente Charakter ist in der modernen Wohlstandsgesellschaft des Westens weitgehend verloren gegangen. Während das Betteln für andere, etwa Spendenaufrufe, akzeptiert ist, ist das Betteln für sich selbst ein Ausschlusskriterium: „Wenn man will, findet man doch Arbeit!“ „Wer keine Arbeit findet, der wird durch den Staat gestützt!“ „Im Zweifelsfall versäuft der das Geld ja ohnehin!“ – so lauten gängige Vorstellungen.

Durch diese Logik verliert der Bettler seine Rolle im sozialen Geflecht der Gesellschaft. Er wird, ob mit oder ohne Wohnsitz, zum Ausgestoßenen. Die Bettelei hängt ihm an wie Lepra in früheren Zeiten.

Dabei haben solche Aussagen wie oben auch etwas Zutreffendes: Sozial- Werke und -arbeiter weisen schon lange darauf hin, dass viele Obdachlose unter Suchtkrankheiten, am häufigsten Alkoholismus, leiden. Das erbettelte Geld dient ihnen dann dazu, diese Sucht zu befriedigen. Und viele Obdachlose leben auf der Straße, nicht weil der Staat ihnen keine Wohnung finanziert, sondern weil ihre psychischen Leiden sie aus einem festen Wohnsitz treiben.

Doch setzt das die christliche Nächstenliebe außer Kraft? Ist sie durch Steuern und Abgaben schon erfüllt – alles an den Staat delegiert?

Betteln, ein Problem der anderen?

Noch einmal Thomas von Aquin: „Da die Barmherzigkeit eine Wirkung der Liebe ist, so ist durch Vermittlung der Barmherzigkeit das Almosengeben ein Akt der Liebe“ (Summa Theologica, II,II, 32,1). Das Almosengeben als Akt der Liebe erschöpft sich dabei nicht im Geben von Geld. Dann wäre der Akt unvollständig. Liebe ist immer konkret, auf einen Menschen hin bezogen, und setzt damit Beziehung voraus.

Menschen wie Elisabeth von Thüringen geben hierfür Beispiele: Sie hat nicht nur ihr Witwengut für die Armen gespendet. Sie hat auch selbst die Kranken gepflegt. Sie hat nicht nur gezahlt, sondern auch die Beziehung zu den Armen gesucht. Die Königstochter hat sich den Armen ausgesetzt, die ihr zuvor fremd waren. Edith Stein hat das „Einfühlung“ genannt: „Einfühlung meint eine Grundart von Akten, in denen fremdes Leben erfasst wird“ (Zum Problem der Einfühlung).

Auf diese Weise entsteht Gemeinschaft neu. Gemeinschaft, das ist es, was vielen Menschen, die für sich betteln, fehlt: Zwar werden sie an sich durch staatliche Instrumente mehr oder weniger versorgt. Aber sie haben keine Beziehung mehr zu den Menschen um sie herum, sind ausgeschlossen aus der Gemeinschaft.

Das kann jene Frage verändern, die sich Menschen stellen, die etwa in der S-Bahn von einem Bettler angesprochen werden. Nicht mehr: „Soll ich hier schnell ein paar Euro geben? Mit ausgestrecktem Arm, damit die Armut mir nicht zu nahe kommt.“ Sondern: „Will ich hier Beziehung aufbauen? Das Gespräch suchen, um dem anderen nicht nur Geld, sondern das Gefühl zu geben, wieder mal dazuzugehören?“

Fotos:

Thomas von Aquin: Carlo Crivelli 1476, Wikimedia Commons

Kapuziner: Rafael – archivo, Wikimedia Commons