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Mittwoch, 18. Mai 2022
Die Tugend, mit der die Schatten ausgeleuchtet werden

Vom Geheimnis, ein echter Heiliger zu werden

Jeder kennt sie oder hat von ihnen gehört: Die Heiligen! Spirituelle Stars, die teilweise schon zu Lebzeiten verehrt werden. Sie haben eine Aura, Ausstrahlung. Manchesmal gründen sie Gemeinschaften, die ihr Charisma tradieren und in der Welt verbreiten. Und manchesmal erweisen sie sich als Täuscher und Verbrecher.

Deswegen schlägt in dieser Zeit charismatischen, heiligmäßigen Menschen zunehmend Skepsis entgegen. Wie also prüft man einen Menschen, ob er oder sie ein Heiliger ist?

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Der hl. Philipp Neri kannte das Geheimnis der Heiligen

Die zieht einem die Schuhe aus

Diese Frage soll sich im ausgehenden 16. Jahrhundert Philipp Neri im Auftrag des Papstes gestellt haben. In einem Kloster in der Umgebung Roms lebte eine junge Nonne, die behauptete: Jesus erscheint mir regelmäßig. Ihre Mitschwestern und viele Menschen der Umgebung verehrten sie deswegen als lebendige Heilige. Da auch Philipp Neri für seine Visionen bekannt war, sandte der Papst ihn in dieses Kloster, um zu prüfen, was an der Geschichte dran sei. Philipp stapfte in einfacher Straßenkleidung über die Landstraße in jenes Kloster und kam, da es regnete, reichlich verdreckt an. Von der Oberin ließ er sich die junge Nonne vorführen. Philipp bat sie, ihm, dem älteren Herrn, die verdreckten Stiefel ausziehen. Das wies die „Heilige“ brüsk zurück, sie fühlte sich zu erhaben. Für Philipp war die Sache damit klar. Eine Heilige könne sie nicht sein: zu stolz; und die Visionen seien vermutlich auch nicht echt, sie würden den Stolz ja hervorrufen.

Die dunkle Seite der Heiligkeit

Das Problem, mit dem sich Philipp Neri konfrontiert sah, war damals schon nicht neu und ist immer noch aktuell. So widmet sich, ganz unreligiös, auch Robert Greene in seinem Buch „Die Gesetze der menschlichen Natur“ diesem Thema: Greene beschreibt einen solchen „Heiligen“: „Diese Person ist der Inbegriff von Güte und Reinheit. Sie unterstützt die besten und fortschrittlichsten Ziele. Sie kann sehr spirituell sein, wenn sie auf dieser Schiene fährt, oder sie steht über der Korruption und den Kompromissen der Politik, oder sie hat grenzenloses Mitgefühl für jede Art von Opfer.“ Mit dieser Maske verschleiern sie häufig ihre Bedürfnisse nach Macht und Aufmerksamkeit oder „starken sinnlichen Gelüste“. Andere werden von der Aura solcher „Heiliger“ angezogen. So gelangt die Person in der Maske des Heiligen zu Macht und Einfluss. Das ist gefährlich. Denn insgeheim wird der „Heilige“ von Geld, Rampenlicht oder Sexualität angezogen, die eigentlich für ihn tabu sind. Aus dieser Spannung entsteht die Tendenz zum Doppelleben: Nach außen inszeniert er seine Heiligkeit, während er nach innen eine mitunter dämonische Seite auslebt.

Dabei muss es gar nicht so extrem sein. Bei den meisten Menschen zeigt sich die verborgene Seite eher harmlos für die Umwelt. Zudem sind sich die meisten Menschen dieser anderen Seite häufig nicht bewusst.

Schatten seiner selbst

Ursprung zusammen. Der liegt zumeist in der Kindheit. Seit jeher ist der Mensch als soziales Wesen von der Reaktion seiner Umwelt abhängig; auf bestimmte Eigenschaften, die er gezeigt hat, erhielt er eine positive Reaktion von seiner Umwelt, auf andere eine negative; deswegen wurden die sozial akzeptierten Eigenschaften nach außen stärker betont, während die anderen nach innen zurückgedrängt wurden. Doch wird dieses andere nur nach außen hin versteckt, so bildet sich das heraus, was C. G. Jung „Schatten“ nennt. Der Schatten ist ein ständiger Begleiter des Menschen. Er äußert sich vor allem dann, wenn man ein Verhalten an den Tag legt, das in der Selbstwahrnehmung gar nicht zu einem passt. Der Schatten besteht aus allen Eigenschaften, die sich der Mensch nicht zugestehen und daher unterdrücken möchte. Eine literarische Verarbeitung dieses Phänomens findet sich im Roman „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson:

Die Hauptfigur, Dr. Jekyll, ist ein tadelloser englischer Gentleman und angesehenes Mitglied der Gesellschaft. Doch er entwickelt eine Mixtur, mit der er sich in Mr. Hyde verwandelt, die Verkörperung seines Schattens. Der außer Kontrolle geratene Schatten Hyde führt schließlich zur Selbstzerstörung Dr. Jekylls.

Integration des echten Heiligen

Damit es nicht soweit kommt, ist es laut Greene die Aufgabe eines Menschen, sich seinem Schatten zu stellen. Dann verliere er seine destruktive Kraft. Und indem so mehr Teile der Persönlichkeit in die bewusste Identität integriert werden, besitzen diese Menschen einen tieferen Zugang zu sich selbst. Sie erwecken den Eindruck, „mit sich im Reinen zu sein und sich in ihrer Haut wohlzufühlen. Sie zeigen bestimmte Merkmale, die diesen Eindruck verstärken: Sie sind in der Lage, über sich selbst zu lachen; sie können bestimmte Charakterschwächen offen zugeben, wie auch Fehler, die sie gemacht haben; sie haben eine verspielte, manchmal schelmische Ader, als hätten sie das Kind in sich bewahrt.“ Humor, ehrlich, kindlich: Solche Eigenschaften führen wieder zu Philipp Neri. Der „Apostel von Rom“ vereint die von Greene beschriebenen Eigenschaften. Sein ganzes Leben stellte er sich seinen dunklen Seiten und leuchtete sie immer wieder aus. Und er erzählte auch jedem davon. Er machte sich über sich selbst lustig und galt als „Gaukler“. Über Philipp Neri schreiben Louis Ponnelle und Louis Bordet: „Seine Wachsamkeit galt vor allem jeder Regung von Selbstbespiegelung, sein Kampf der Selbstbezogenheit, sein großes Ziel war die letzte Demut vor Gott und den Menschen.“ Damit reiht sich Philipp ein in die Reihe vieler spiritueller Lehrmeister. Und von diesem Schatten her erklärt sich zugleich der Fokus auf die Demut, der sich in vielen spirituellen Schriften findet. Die Maske der Heiligkeit ist die beliebteste Form im religiösen Kontext, seinen Schatten vor sich und anderen zu verstecken. Der Drang nach Macht und Geltung, das Charisma des „Heiligen“, sie können einen einen toxischen Cocktail bilden. Nur wenn der „Heilige“ Demut lebt, also wirklich nicht nach Macht und Geltung strebt, ist die toxische Wirkung der Heiligkeit entschärft. Und zugleich unterscheidet sie denjenigen, der nur scheinen will von dem, der sein möchte.

Header Bild: Sebastiano Conca, Wikimedia Commons