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Donnerstag, 11. Januar 2024

Überleben im Zwischen-Raum

Im Jahr 2023 wurden in Deutschland insgesamt 351.915 Asylanträge gezählt. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies eine massive Steigerung, dennoch erreichen die Zahlen bei weitem nicht das Niveau aus den Jahren 2015 und 2016. Personen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, müssen in Deutschland kein reguläres Asylverfahren durchlaufen - sie sind damit in der Statistik über Asylanträge nicht enthalten. Bis Ende November 2023 wurden in Deutschland etwa 1,1 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine gezählt.

Flucht und Vertreibung, diese Tragödien sind so alt wie die Menschheit. Auch die Idee des Asyls, mit dem Gesellschaften diesem Problem in einem ersten Schritt begegnen, ist uralt und reicht bis in die Antike zurück.

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Kopf einer Statue des Aischylos. Foto: sailko (wikimedia commons). CC BY-SA 3.0

Antikes Tempel-Asyl

Die griechische Kultur kannte die Praxis der hikesie: Die Schutzflehenden flohen zu Tempeln, Altären und Götterbildern, um vorübergehend vor Verfolgung und staatlichem Zugriff sicher zu sein. Der Grund ihrer Flucht war erst einmal nachrangig. Im Glauben der Griechen drohte dem, der den Schutz des Heiligtums ignorierte oder das Schutzflehen zurückwies, die Sanktion durch den höchsten Gott, Zeus selbst, der als Zeus hikesios angerufen wurde

Damit entstand ein Zwischen-Raum: Die Schutzflehenden befanden sich beim Tempel an einem Ort zwischen sakral-göttlicher und menschlicher Sphäre und waren damit vorläufig dem Zugriff der Verfolger entzogen. Das ergab die Notwendigkeit für die beteiligten Parteien, sich über den langfristigen Status der Betroffenen einig zu werden.

Leben im Zwischen-Raum

Was beide, den Wirtschaftsflüchtling und den Asylberechtigen verbindet, ist das Leben im Zwischen-Raum. Menschen sind in Staaten organisiert. Diese platte Weisheit wird für jede Art von Flüchtling zu einer bitter erfahrenen Wahrheit. Denn Staaten grenzen sich von anderen Staaten ab: sowohl räumlich wie personell; sie haben ein Staatsgebiet und ein Staatsvolk.

Einen Flüchtling macht das, egal ob mit oder ohne Aufenthaltsstatus, zur Person zwischen den Welten. Denn er mag auf dem Staatsgebiet leben, seit vielen Jahren und dort sogar gut integriert sein; aber er gehört nicht zum Staatsvolk.

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Das Grundgesetz spricht vom deutschen Volk - und meint damit die Bürger

Im Lateinischen wird diese Verbindung noch deutlicher: Der Staatsbürger ist der cives, dessen Gemeinschaft, die Bürgerschaft, ist die civitas, was zugleich Bürgerrecht, aber auch Staat und Gemeinwesen bedeutet.

Der Bürger ist dadurch bestimmt, dass er nicht nur an einem Ort wohnt, sondern dort auch alle politischen Rechte und Pflichten genießt. Wenn etwa in der Präambel des Grundgesetzes vom „Deutschen Volk“ gesprochen wird, dass sich in „seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“ hat, so sind nur die Bürger gemeint; nicht alle, die sich dort auch noch aufhalten.

Doch die juristische Perspektive ist nicht alles. Schon in der Antike wurde das staatliche Recht durch religiös-sakrale Vorstellungen ergänzt. Das hat sich auch erhalten.

Asyl und Nächstenliebe

So wurde die anerkannte hikesie der Tempel des griechisch-römischen Kulturraumes bei der Christianisierung auch auf die Kirche angewandt. Dort kam ein weiteres Element hinzu: Die neutestamentlichen Forderungen nach Gastfreundschaft, Barmherzigkeit und Nächstenliebe ließen den Schutz der Flehenden besonders geboten erscheinen. Die christlichen Kaiser erkannten das Kirchenasyl als Privileg explizit an. Vom römischen Recht her fand es Eingang in mittelalterliche Rechtssammlungen.

Seit der frühen Neuzeit verschwand dieses Recht der Kirchen, Asyl zu gewähren, aus der Gesetzgebung. So wurde ein neuer Zwischen-Raum geschaffen: Zwar ist die Rechtsordnung nicht verpflichtet, ein Kirchenasyl zu akzeptieren; in überraschend vielen Fällen geschieht das aber: Nach Angaben der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" sind derzeit 365 aktive Fälle von Kirchenasyl bekannt, mit mindestens 570 Personen, unter ihnen 123 Kinder

Für das Kirchenasyl ist jenes traditionelle Element entscheidend, das schon in der Antike die hikesie prägte: Eine Kooperation zwischen religiöser Institution und Staat. Das Kirchenasyl wird gegenüber den Behörden mitgeteilt, gleichzeitig verzichten diese zunächst auf den Zugriff. Diese Kooperation wurde Ende Februar vom Bayerischen Obersten Landesgericht bestätigt, als ein Mönch der Abtei Münsterschwarzach nach gewährten Kirchenasyls freigesprochen wurde

Wieso aber ist Kirchenasyl in einer demokratischen Ordnung mit dem Recht auf Asyl noch notwendig?

Der Großteil der Fälle von Kirchenasyl resultiert aus dem Dublin-III-Abkommen: Den Betroffenen droht die Abschiebung in jenes EU-Land, das sie bei ihrer Flucht zuerst betreten haben, aus dem sie aber weiter geflohen sind, häufig weil sie dort Kriminalität, Missbrauch oder Verwahrlosung ausgesetzt waren. Das Kirchenasyl dient dazu, Zeit zu erkaufen, um eine erneute Prüfung zu ermöglichen.

Das Kirchenasyl erfüllt heute die Funktion, die staatliche Ordnung zu ergänzen: Die Kirche ist einem erweiterten Normbegriff verpflichtet, der Nächstenliebe, Gastfreundschaft und Barmherzigkeit miteinschließt. Es verweist darauf, dass diese Normen in einer Gesellschaft ergänzend und mitunter auch im geduldeten Widerspruch zu staatlichem Handeln notwendig bleiben und einen Zwischen-Raum schaffen, der Überleben und Menschenwürde sichert