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Orientierung
Donnerstag, 10. November 2022
Ein früher Patron der Solidarität

Sieben Fragen zum Martinsbrauchtum

Er teilte seinen warmen Soldatenmantel mit einem Bettler. Er entsagte seinem sicheren Offiziersleben. Sankt Martin - ein beliebter Heiliger, vor genau 1.625 Jahren gestorben und für unsere Tage erklärt. In Europa bräuchte es heute mehr von seinem Schlag: Die Not der anderen ging dem römischen Soldaten Martin (316/17-397) über seine eigene Karriere. Buchstäblich grenzüberschreitend war er und hatte den klaren Blick für den Nächsten. Ein Christ, der im entscheidenden Moment seines Lebens barmherzig war und an die Ränder ging. Der heilige Martin steht für Frieden und Solidarität, für mehr Aufmerksamkeit gegenüber Randgruppen. Er ist Patron der Bettler, der Geächteten und der Kriegsdienstverweigerer. Sieben Fragen und Antworten zu einem alten Heiligen, der heute noch ein Beispiel gibt.

Warum wird der Martinstag am 11. November gefeiert?

Normalerweise ist der Todestag eines Heiligen automatisch auch sein Namenstag im Jahreskalender. Tatsächlich aber starb der heilige Martin am 8. November während eines Pfarreibesuchs im Örtchen Candes am Loire-Ufer. Damals drängten die Bürger von Tours auf die Herausgabe ihres Bischofs - doch in Candes wollte man ihn behalten. Am Ende entführten die Tourains ihn bei Nacht und treidelten ihn den Fluss hinunter. Und überall am Ufer sprossen laut Überlieferung plötzlich weiße Blüten: der Sommer des heiligen Martin mitten im November! Drei Tage später, am 11., fand in Tours die Beisetzung statt.

Wofür steht der Martinstag (11. November) im Jahreskalender?

Der Martinstag war traditioneller Pacht- und Zahltag am Ende des bäuerlichen Wirtschaftsjahres. Es wurde geschlachtet; Gänse und frische Wurst waren in Umlauf. Ein Grund, warum Landarbeiter und Kinder um die Häuser zogen, sangen, Segen wünschten und dafür mit Naturalien belohnt wurden.

Nach dem Martinstag begann die 40-tägige Fastenzeit vor Weihnachten (Martinsquadragese). Also wurde noch mal ordentlich hingelangt - wie noch heute an den Tagen vor Aschermittwoch. Und das, obwohl Martin selbst, der mönchische Einsiedler und Bischof, ein ausgemachter Asket war. In Frankreich gibt es sogar die Bezeichnung Martinsschmerzen (mal de Saint-Martin) für Bauchweh und Kater nach einem Gelage. Denn am Martinstag wurde auch erstmals der neue Wein ausgeschenkt - ein jahrhundertealter Brauch, den erst Mitte der 1970er Jahre der Hype um den Beaujolais Pri-meur zuschanden machte.

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Und warum gibt es die Martinsgans?

Die Legende berichtet, die Bürger von Tours wollten den Einsiedler Martin als ihren Bischof haben. Unwillig, sein zurückgezogenes Leben aufzugeben, habe sich Martin im Gänsestall versteckt, sei aber von den schnatternden Gänsen verraten worden. Diesen Verrat müssen sie bis heute teuer bezahlen.

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Was haben die protestantischen Preußen mit dem französischen Bischof Martin und dem Brauchtum am Martinsabend zu tun?

Seit jeher wurde der Martinsabend mit seinen Martinsfeuern ausgelassen gefeiert. Entsprechend sorglos-undiszipliniert agierte die Dorfjugend. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wünschten sich die Preußen in ihren Rheinlanden mehr Zucht und Ordnung; und so kanalisierten sie das Brauchtum des Holens und Sich-Organisierens von Nahrungsmitteln in ein Geben und Zuteilen.

Ein reitender Sankt Martin - eine fromme Autoritätsperson also - ging einem ordentlichen Fackelzug voran. An einem zentralen Feuer (statt vieler kleiner, unbeaufsichtigter) verteilte Martin an alle Kinder Süßigkeiten: einen Weckmann und/oder eine Martinstüte. Bis heute ist in manchen Regionen das Singen, Heischen, Gripschen oder Kötten von Tür zu Tür verpönt - während es anderswo fest zum Martinsbrauchtum dazugehört.

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Was ist aus dem halben Mantel geworden?

Als Martin seinen Mantel mit dem Bettler teilte und damit Militäreigentum beschädigte, beging er eine Straftat, auch wenn damals nominell die Hälfte dem römischen Staat und die andere dem Soldaten selbst gehörte. Heute gilt der halbe Mantel als ein Zeichen christlicher Barmherzigkeit. Im Mittelalter wurde er von den Frankenkönigen als Glücksbringer mit in die Schlacht geführt. Später verlieren sich seine Spuren.

Im spätantiken Latein hieß der mantelartige Umhang „cappa“. Die angebliche Cappa des heiligen Martin war eine der bedeutendsten Reliquien des Reiches. Zu seiner Bewachung wurden eigens Geistliche abgestellt, sogenannte Kapellane. Sie betreuten auch die Kapelle, also jene Gotteshäuser, in denen die Cappa aufbewahrt wurde. Bis heute ist ein Kaplan ein Geistlicher für besondere Aufgaben und die Kapelle ein Gotteshaus ohne unmittelbare Zuweisung für die Pfarrseelsorge. Oder aber eine Gruppe von Musikanten, die ursprünglich wohl für die liturgische Gestaltung von Gottesdiensten an der Cappa zuständig waren.

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Warum ist in Frankreich das Martinsbrauchtum fast völlig vergessen?

In Frankreich, wo Martin als Bischof von Tours wirkte, kennt kaum jemand mehr seine Legenden und Geschichten. Ein Grund dafür ist auch, dass der fromme Oberkommandierende der Westalliierten im Ersten Weltkrieg, Marschall Ferdinand Foch, das Datum der deutschen Kapitulation auf den 11. November 1918 legte, den Martinstag. Für das Bewusstsein um den heiligen Martin war das (ungewollt) ein Bärendienst. Denn bis heute ist der 11. November in Frankreich zwar ein Feiertag - aber als staatlicher Tag des Waffenstillstands, an dem der Gefallenen gedacht wird und nicht des antiken Bischofs.

Warum gab es zuletzt immer wieder Debatten um den Martinstag?

Immer wieder entstanden in vergangenen Jahren teils heftige Diskussionen, wenn Kindergärten, Schulen oder Stadtverwaltungen Martinsumzüge und Martinsfeste in „Lichterfest“, „Laternenumzug“ oder „Sonne-Mond-und-Sterne-Feiern“ umbenennen wollten. Als Grund wurde oft eine Rücksichtnahme auf Nichtchristen genannt, insbesondere auf Muslime. Kritiker sprachen von unnötiger Verweltlichung oder gar von einem Verrat am christlichen Abendland.

                                                                                                                      (KNA)

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