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Donnerstag, 19. Mai 2022
Benedikt von Nursia

Das geistliche Lehrbuch des Westens

Kennen Sie die Benediktsregel? Ein Büchlein, vor 1500 Jahren für fromme Asketen von einem ehemaligen Eremiten auf einem Berg in Mittelitalien geschrieben. Und noch heute kommt keine Buchhandlung ohne einen religiösen Titel aus, in dem nicht wenigstens auf die Benediktsregel Bezug genommen wird. Was ist ihr Geheimnis?

Liegt es am Genre? Es handelt sich um eine Kloster-Regel, in der festgelegt ist, wie Mönche zusammenleben sollen.

Das klingt selbstverständlich. Wie sollen Mönche auch anders leben denn im Kloster? Doch das Wort Mönch stammt vom altgriechischen mónos ab: „allein“. Der Mönch ist einer, der allein lebt. So hausten die ersten Eremiten einsam in Höhlen oder Hütten in der Wüste. Später entwickelten sich lose Verbände und Siedlungen. Die erste umfassende Regel findet sich beim Ägypter Pachominus, der das Leben seiner versammelten Wüstenväter militärisch durchorganisierte.

Im Gefolge des Pachominus entstanden weitere Kloster-Ordnungen: Etwa jene Basilius‘ des Großen (330–379); sie ist bis heute die maßgebliche Regel für das Mönchtum der Ostkirchen. Auch im lateinischen Westen wurden zahlreiche Ordnungen niedergeschrieben; am bekanntesten war jene des irischen Missionars columban.

Der Autor der Benediktsregel konnte also auf Vorlagen zurückgreifen. Wirklich innovativ ist seine Regel nicht. Doch was wissen wir eigentlich über diesen Autor?

Legenden und Gestalten

Die Informationen über das Leben Benedikt von Nursias sind unzuverlässig. Sie stammen im Wesentlichen aus den Dialogen Papst Gregors des Großen (540–604), der den Mönchsvater als Beispiel für einen italienischen Heiligen aufführte. So ist diese Vita Gregors vor allem von Vorstellungen geprägt, wie ein Heiliger sein sollte. Die Forschung geht davon aus, dass jenseits der literarischen Überformungen Gregors die Gestalt Benedikts auf eine historische Person zurückgeht, die Gründer des Klosters von Monte Cassino war.

Benedikt stammte laut Gregor aus gutem Hause, aus Nursia in Mittelitalien. Er soll eine Weile in Rom gelebt haben; dem alten Haupt der Welt, das gerade in Trümmern versank. In diesem Klima erwachte in ihm der Wunsch, Gott in der Einsamkeit zu suchen. Er verließ die Stadt am Tiber, um in Effide, heute Affide, als Eremit zu leben.

Dort vollbrachte Benedikt schon erste Wunder, wurde berühmt und floh vor diesem Ruhm tiefer in die Einsamkeit. In einer Höhle nahe Subiaco fand er Ruhe. Ein Mönch namens Romanus, der in einem Kloster in der Nähe lebte, half ihm, indem er ihm Nahrung in einem Korb herunterließ.

Die Einsamkeit scheint Benedikt gründlich erreicht zu haben: Selbst den Ostertermin hatte er in seiner Höhle vergessen; er kleidete sich in Felle und muss so verwildert ausgesehen haben,

dass die Hirten der Umgebung ihn zunächst für ein Tier hielten. Später jedoch versorgten sie den Eremiten mit Nahrung. Damit endete für Benedikt die Zeit der Einsamkeit. Die Menschen des Umlandes suchten seinen geistlichen Rat; es sammelten sich auch Schüler um ihn.

Allerdings blieben nur wenige direkt bei Benedikt. Die meisten von ihnen sammelte er in 12 kleinen Klöstern. Er wies ihnen so das gemeinschaftliche Leben zu. Auch er selbst verließ das Dasein eines Einsiedlers. Gregor lässt offen, wann und wie genau sich diese Entwicklung abspielte. Der Prozess war spätestens in Monte cassino abgeschlossen. Dort vollbrachte Benedikt laut dem Autor der Vita nicht nur zahlreiche Wunder, sondern schrieb auch eine Regel für seine Gemeinschaft auf.

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Wieso war die Klosterordnung Benedikts damals so erfolgreich? In seiner Einführung zur Benediktsregel kommentierte Georg Holzherr: Zum einen fußt die Regel auf der Bibel, den Überlieferungen der frühen Mönchsväter und kondensiert bestehende Ordnungen. Sie blieb aber flexibel, weil sie Einzelheiten gern der Regelung durch den jeweiligen Abt überließ. Die Anweisungen der Reliteragel, auch organisatorischer Art, stellt sie zudem in eine biblisch-spirituelle Begründung. Und sie findet einen Ausgleich zwischen zwei Polen: der Gemeinschaft und dem einzelnen Mönch.

Ordnung für heute?

Nicht zuletzt: Die Benediktsregel war schon immer mehr als eine Klostervorschrift. Pius Engelbert bezeichnet sie als „Erbauungsbuch für Mönche“.

In der Benediktsregel verdichtet sich die Spiritualität der alten Kirche. Vorlage für den Mönch ist nicht der Abt; christus selbst ist das Modell. Michaela Puzicha sieht daher in der Benediktsregel ein „christusbuch“: Die Ausrichtung auf Gott zieht sich durch das gesamte Werk. Sie ist geschrieben für Menschen, die nichts mehr schätzen als die Liebe christi: Ein hoher, aber bis heute gültiger Anspruch. „In diese christusliebe will die Benediktsregel hineinführen“, so Puzicha. Dieser Gott erhellt das ganze Leben des Mönches, der ihn sich ständig präsent hält und auf seine Hilfe beständig vertraut. Benedikt begreift sein Kloster dabei als Weggemeinschaft, die gemeinsam auf Gott zugeht.

Darin trifft der Mönchsvater bis heute einen Nerv: Der Mensch ist sich in der Frage nach Gott gleich geblieben. Seine Regel ist eine Übersetzungsleistung des Autors, der die anspruchsvolle Spiritualität der frühen christlichen Asketen für den normalen christen zugänglich macht. Der erfolgreiche Wüstenvater musste ein Held sein, Hitze, Einsamkeit, Unordnung ertragen können. Der Mönch des Pachominus war ein Soldat, kaserniert und durchgetaktet von früh bis spät. Die Söhne des hl. Benedikt konnten gewöhnliche Menschen bleiben, mit Schwächen und Eigenheiten, eingerahmt in ein flexibles spirituelles Korsett, das ihnen Struktur gab. Eine Struktur, die bis heute Impulse für das Leben als christ bietet.