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Orientierung
Montag, 23. Mai 2022
Wieso braucht der fortschrittliche Westen die Hilfe der indigenen Völker?

Gutes Leben mit dem Klimawandel

Jahrzehntelang spielten sie auf den Klimakonferenzen keine Rolle: die indigenen Völker. Dabei hüten sie etwa in Amerika einen erheblichen Teil des Lebensraumes, der für die Entwicklung des Klimas auf der Welt entscheidend ist: den Regenwald. Doch auf den großen Klimakonferenzen sprachen Regierungen mit Regierungen. Und selbst in demokratischen Staaten sind die Indigenen Minderheiten, die nur wenig Gehör finden.

Auf der Weltklimakonferenz 2021 in Glasgow hat sich das geändert: die indigenen Völker werden als Partner der Regierungen wahrgenommen. Besonders gilt das für den Schutz der Regenwälder. Das hat seine Gründe: Laut einem Bericht der Vereinten Nationen aus dem Frühjahr 2021 sind die Wälder dort intakter, wo Indigene leben. Entsprechend sollen in den kommenden Jahren 1,7 Milliarden US-Dollar an sie ausgezahlt werden, um sie beim Schutz ihrer Lebensräume zu unterstützen.

Damit nimmt die Klimakonferenz 2021 einen Gedanken auf, der schon 2019 auf der Amazonas-Synode angesprochen wurde. Darin wird die Auflage eines Welt-Fonds gefordert, der die in Amazonien lebenden indigenen Gemeinschaften unterstützt, die zu einer ganzheitlichen Entwicklung beitragen. Es lohnt sich daher, sich mit dem zwei Jahre alten Dokument erneut zu beschäftigen.

Internationale Solidaritätsbewegung

Ein Schlüsselbegriff damals war die ganzheitliche Ökologie. Darunter versteht das Synodenpapier, dass alles miteinander verbunden ist. Ökologie und soziale Gerechtigkeit gehören demnach zusammen. Mensch und Natur stehen einander nicht gegenüber. Die Verantwortung gilt beiden. Unter dieser Perspektive öffnet sich eine doppelte Bedrohung durch die aktuelle Entwicklung des Klimawandels: sowohl der Natur als auch der ärmsten und schwächsten Menschen der Erde. Die Amazonas-Synode sieht die Kirche als Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung, die sich dem Schutz von beidem verschrieben hat. Es gilt daher nicht nur ökonomische Ressourcen bereitzustellen, sondern dabei auch eine gerechte und solidarische Entwicklung der Wirtschaft und der Gesellschaften voranzubringen.

Dass sich die Synode mit dem Amazonas- Gebiet beschäftigt hat, war kein Zufall: Neben Zentralafrika besteht dort noch die größte Fläche zusammenhängenden Regenwaldes. Zusammen mit den Ozeanen haben diese Gebiete mit den größten Einfluss auf die Stabilität und Instabilität des weltweiten Klimas. Zugleich lässt sich gerade in der Amazonas- Gegend, die überwiegend zu Brasilien gehört, der Raubbau an der Natur gut aufzeigen. Seit Jair Bolsonaro Präsident von Brasilien ist, hat die Ausbeutung und Vernichtung des Regenwaldes deutlich zugenommen. Damit einher geht auch die Bedrohung der dort lebenden indigenen Völker bis hin zu deren Vertreibung.

Die Expansion des globalen Nordens

Dabei folgt die Regierung Bolsonaro konsequent einem wirtschaftlichen Paradigma: Der Hunger der Welt, vor allem des globalen Nordens und Chinas, nach Ressourcen treibt die „Erschließung“ genannte Vernichtung des Regenwaldes voran. Sie bedeutet Gewinn für die einheimischen Eliten, für zahlreiche internationale Konzerne und auch Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung.

Das Dokument der Synode verweist auch auf den post-kolonialen Kontext, Foto: Heibe (pixabay) Foto: Fancygrave1 (pixabay) in den diese Geschehnisse eingebettet sind.

Das Bild der heutigen Weltgesellschaft ist wesentlich das Ergebnis der kolonialen Expansion des europäischen Kulturkreises, vor allem der vergangenen 200 Jahre. In dieser Zeit ist ein Großteil der Welt durch Staaten, die dem europäischen Kulturraum angehören oder von ihm abstammen, geprägt worden. Die Dominanz des westlichen Kulturraumes wirkte sich auch auf das Selbstverständnis jener Völker aus, die sich von ihm distanzieren.

Der Segen des Westens

Die Dominanz des Westens hat sich auch durch die die Dekolonialisierung nicht verändert. Das hängt auch mit der jahrzehntelangen ungebrochenen Attraktivität des westlichen Modells zusammen: Liberale Demokratien und kapitalistische Wirtschaftsordnungen haben ein Maß an Wohlstand und Entwicklung geschaffen, das in der Menschheitsgeschichte zuvor unerreicht war. So ist das massive Wachstum der Bevölkerung in den Entwicklungsländern nicht nur auf deren hohe Geburtenrate zurückzuführen; die ist im historischen Durchschnitt sogar unterdurchschnittlich. Sondern sie beruht auf den medizinischen Errungenschaften, welche die Kindersterblichkeit in allen Ländern deutlich gesenkt hat. Ein medizinischer Fortschritt, der vom Westen aus über die Welt gekommen ist. Es zeigt sich: Die schreiende Armut vieler Menschen, eine hohe Kindersterblichkeit und niedriges Alter sind der menschheitsgeschichtliche Normalfall. Es war jener koloniale Westen, der in den vergangenen 200 Jahren etwas Wohlstand, relative Sicherheit und Bevölkerungswachstum für viele erst möglich gemacht hat.

Die Rechnung sah bislang für viele Nationen so aus: Partizipation am kapitalistischen Modell bringt wenigstens etwas mehr Wohlstand als vorher. Damit war der Reichtum immer noch ungerecht verteilt. Aber für viele stimmte die Richtung.

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Der Fortschritt der westlichen Gesellschaft verursacht zunehmend Kosten, die unüberschaubar werden.

Veränderte Kalkulationen fordern neue Modelle

Die Ausbeutung der Ressourcen und der Klimawandel verschieben diese Kalkulation: Die Kosten drohen die Gewinne zu übersteigen, wenn die Welt dem alten Wohlstandsmodell weiterhin folgt. Zumal: Kosten werden bevorzugt denen aufgebürdet, die am schwächsten sind. Das bedeutet auch: Diejenigen, die am wenigsten vom Modell des Westens profitieren, müssen am meisten unter dessen negativen Folgen leiden.

Das Dokument der Amazonassynode liest sich daher als fundamentale Kritik. Die Synode traut dem westlich geprägten Wirtschaftsmodell nicht zu, die antisoziale und antiökologische Tendenz, die ihm innewohnt, aus sich selbst zu überwinden.

Demgegenüber thematisiert das Dokument der Amazonas-Synode andere Konzepte, etwa das des „guten Lebens“, des buen vivir. Darunter wird die Einstellung zum Leben, Arbeiten und zur Natur vieler indigenen Völker subsumiert. Grundlage des Konzeptes ist der Versuch eines Gleichgewichtes des menschlichen Lebens mit der Natur sowie der Reduktion von sozialer Ungleichheit und einer solidarischen Wirtschaft. Es handelt sich damit um einen Gegenentwurf zum wirtschaftlichen Entwicklungsdenken des globalen Nordens. In einigen Ländern Lateinamerikas, etwa in Ecuador und Bolivien, ist dieses Konzept schon Teil politischer Leitprinzipien der Regierungen.

Solche alternativen Konzepte können für die Diskussion um den Klimawandel von entscheidender Bedeutung sein. Ein Klimaschutz, der ausschließlich darauf aus ist, die Folgen des Klimawandels abzumildern, ist stets von der Machtarithmetik bedroht: Zur Abmilderung von Folgen können Letztere nämlich auch anderen aufgebürdet werden, nämlich den Schwächeren. Ein erfolgreicher Klimaschutz, so kann das Synoden-Papier gelesen werden, setzt daher auf eine Ergänzung bisheriger Werte. Indem die bisherigen Außenseiter auf der Klimakonferenz von Glasgow erstmals ernst genommen werden, ist dafür ein erster Schritt getan.