Neue Perspektiven – nicht nur für die Dozenten
Für die meisten Menschen gehört Obdach- und Wohnungslosigkeit nicht zu ihrem Alltag. Sie findet buchstäblich am Rand der Straßen statt oder in der Unsichtbarkeit von Einrichtungen. Echte Begegnungen gibt es kaum.
Das nahm auch die Katholische Erwachsenenbildung (KEB) in Frankfurt wahr, als sie sich 2019 bemühte, den Anspruch von Papst Franziskus umzusetzen: „Kirche im Aufbruch ist aufgerufen, aus sich selbst heraus- und an die Ränder zu gehen.“ Die KEB entwickelte zwar das Ziel, akademische Bildung im Semester-Rhythmus für obdach- und wohnungslose Menschen anzubieten – aber für die Umsetzung benötigten sie erfahrene Partner.
Obdach- und Wohnungslose
Ist ein Wohnungsloser nicht auch immer obdachlos? Der Staat definiert das anders. Wohnungslose sind Menschen, die keine amtliche Meldeadresse haben, die aber durch die sozialen Sicherungssysteme erfasst werden und häufig einen Platz in einer Unterkunft haben. Obdachlose sind hingegen durch alle Netze des Staates gefallen. Sie haben keine Adresse, keine Versicherung und erhalten kein Bürgergeld.
Zweckfrei, aber sinnvoll
Dafür wandte sich Markus Breuer von der KEB an den Franziskustreff. Diese Institution, die an das Kapuzinerkloster Liebfrauen in Frankfurt angebunden ist, bietet vielen Obdach- und Wohnungslosen einen Treffpunkt, wo sie etwa für sehr wenig Geld ein Frühstück bekommen. Beide Institutionen nahmen Kontakt zur Stiftung Polytechnische Gesellschaft auf.
Daphne Lipp von der Stiftung betont: Das Bildungsangebot ist sinnvoll, aber zweckfrei. Es geht nicht um konkrete Ziele wie etwa Angebote zur Gesundheitsvorsorge. Die Straßen-Uni soll den Geist der Universität in sich tragen: akademische Veranstaltungen, die Zugang zur Bildung an sich ermöglichen.
Das Programm wird in vielen Frankfurter Einrichtungen für Wohnungslose beworben – aber nur dort. In Schaukästen der Frankfurter Kirchengemeinden wird es bewusst nicht präsentiert. Die Veranstaltungen sind als Schutzraum für die Obdach- und Wohnungslosen konzipiert, in dem sie Bildung erfahren.
Aber die Besucher werden nicht versteckt. Deswegen finden die Veranstaltungen im Haus am Dom statt, dem Tagungshaus des Bistums Limburg in der Frankfurter Innenstadt. Denn die Straßen-Uni sieht sich auch als Brücke in die Gesellschaft.
Und wie finde ich Freunde?
Den offenen Blick üben
Die Straßen-Uni ist auch für die Referenten ein besonderes Erlebnis. Sie sind in der Regel Professoren oder Personen des öffentlichen Lebens. In ihrem normalen Berufsalltag treffen sie die Teilnehmer der Straßen-Uni nicht und kommen somit mit Vorurteilen in Berührung – um festzustellen, dass viele falsch sind. Das Bild der Referenten wie auch der anderen Besucher im Haus am Dom wird so gestört – und öffnet die Augen.
Dies zeigt sich zum Beispiel beim didaktischen Ansatz. Am Anfang haben Referenten und Veranstalter gedacht, sie müssten die Themen in einfachen Worten präsentieren. Doch sie haben gelernt: Das Bildungsniveau der Teilnehmer ist hoch. Und wenn etwas nicht verstanden wird, wird direkt nachgefragt.
Denn die Veranstaltungen bestehen nicht aus reinen Frontalvorträgen. Die Teilnehmer stellen oft unmittelbar Rückfragen. Wenn ein Referent 15 Minuten durchsprechen kann, dann sei das schon viel, so Bruder Michael vom Franziskustreff. Aber es sind nicht nur Verständnisfragen. Viele der Teilnehmer bringen erhebliches eigenes Wissen mit, auch Fachwissen. So zeigt sich, dass Obdach- und Wohnungslose keineswegs ungebildet sind.
Manche Themen gehen den Besuchern auch aufgrund ihres Lebens unter die Haut. Ein Vortrag etwa drehte sich um Freundschaft. Eine Teilnehmerin fragte betroffen: „Und wie finde ich Freunde?“ Da spüren wir echte Betroffenheit, so Bruder Michael.
Wichtig ist der gesellschaftliche Zusammenhalt, dass wir die Menschen zusammenbringen.
Neue Räume erobern
Die Vorträge finden immer um 13 Uhr statt, an einem Dienstag. Das heißt: Die Besucher müssen sich die Termine merken und dann auch da sein – meistens relativ pünktlich. Das ist in der Wohnungslosenhilfe nicht selbstverständlich.
Pünktlichkeit ist besonders bei den Exkursionen wichtig, die zwischen den Semestern angeboten werden, etwa ins Senckenberg-Museum oder in die Oper. „Obdach- und wohnungslose Menschen sollen überall sichtbar sein, jenseits der Bilder, die wir als Normale in unseren Köpfen haben“, sagt Markus Breuer von der KEB. Auch das sei ein Ziel der Straßen-Uni, sich Teile des öffentlichen Raumes im positiven Sinne zu erobern, so Bruder Michael. Damit würden Vorurteile abgebaut und man trage zum Miteinander in der Stadt bei. Lipp bringt das auf den Punkt: „Wichtig ist der gesellschaftliche Zusammenhalt, dass wir die Menschen zusammenbringen.“