Dankbarkeit für das Erreichte - Aufgabe für die Zukunft
„Ihr Deutschen habt es gut, ihr könnt wirklich stolz auf eure Leistung sein“. Mein Mitbruder, ein Oblatenmissionar in Afrika, der diesen Satz mehr als einmal zu mir gesagt hat, ist begeistert. Er kommt regelmäßig nach Deutschland und er hat erlebt, wie in den letzten Jahren die ehemals zwei deutschen Teile zusammengewachsen sind. Ihn fasziniert vor allem die Entwicklung der Infrastruktur im wiedervereinigten Deutschland. Wenn man ihm erklärt, dass das längst nicht alle Deutschen so positiv auffassen wie er, dann schüttelt der Afrikamissionar den Kopf und wundert sich über seine deutschen Brüder und Schwestern. „Ihr habt zwei Staaten zusammengeführt, und ihr habt es geschafft, dass sie sich ganz gut entwickelt haben; warum ihr nicht dankbar dafür seid, ich versteh' euch nicht“, sagt er in solchen Momenten und lässt seine Gesprächspartner ratlos stehen.
Wer die Lage unseres Landes ganz nüchtern betrachtet, der wird ihm recht geben müssen. Die friedliche Revolution im Jahr 1989, die Wiedervereinigung und das vielleicht langsame, aber stetige Zusammenwachsen unseres Landes geben wirklich Grund zur Dankbarkeit und sind Dinge, die uns auch zum Nachdenken anregen können.
Wie Gesellschaft gelingen kann
Die Geschichte hat uns gezeigt, dass Systeme, die ganz auf sich selbst vertrauen und Gott ausblenden, zum Scheitern verurteilt sind. Wo Menschen ihre Hoffnung alleine auf den Menschen setzen, da geschieht sehr schnell Überforderung. Der Mensch ist Teil von Gottes guter Schöpfung. Für Christen ist der Mensch eben kein Produkt des Zufalls, keine Laune der Natur. Er ist von Gott gewollt, geschaffen und geliebt. Der Mensch ist nicht nur in die Welt geworfen, er ist für die Ewigkeit bestimmt. Alle politischen und gesellschaftlichen Systeme, die das negieren, die mit menschenverachtender Gottlosigkeit ihre Macht erhalten wollten, sind letztlich gescheitert.
Weil gelingende Gemeinschaft nach christlicher Auffassung immer auch in Gott begründet ist, gibt es Kriterien, wie die Gemeinschaft zu gestalten und zu leben ist. Es darf nie nur um den Nutzen für den Einzelnen gehen, der Christ muss das Gemeinwohl im Auge behalten. Damit das gelingen kann, setzt die christliche Gesellschaftslehre auf das sogenannte Subsidiaritätsprinzip. Kurz gesagt bedeutet das: „So viel Freiheit wie möglich, so viel Hilfe wie nötig“. Jeder soll tun, was er vermag; wo er aber nicht mehr weiter kann, da muss ihm geholfen werden. Dieses Prinzip ist weit entfernt von einer kommunistischen Versorgungsmentalität und lehnt auch einen menschenverachtenden Kapitalismus ab, der kein Mitgefühl und keine Sorge um den Nächsten mehr kennt.
Dankbarkeit für das Erreichte
Beim Rückblick auf die Geschichte sollte Dankbarkeit nicht fehlen. Auch wenn noch nicht alles perfekt sein mag, auch wenn der Einzelne vielleicht noch nicht am Ziel seiner irdischen Träume angekommen ist, es ist viel geschehen, für das Dankbarkeit angebracht ist. Wer dankbar ist, der weiß zu schätzen, was erreicht wurde. „Dankbarkeit ist das Erinnerungsvermögen des Herzens“, dieser Satz stammt von Jean-Baptiste Massilion, dem Hofprediger von Ludwig XIV. und späteren Bischof von Clermont.
„Dankbarkeit ist das Erinnerungsvermögen des Herzens“
An einem Tag wie heute Dankbarkeit zu empfinden hat nichts mit übersteigertem Nationalgefühl zu tun. Wer sich daran erinnert, dass die Grundlage der Wiedervereinigung ein friedlicher Freiheitskampf war, der darf dankbaren Herzens auf den 3. Oktober blicken. Wer sich zurückerinnert, der weiß, dass diese Freiheit auch eine christliche Prägung hat. Da sind die Montagsgebete zu nennen und der unermüdliche Einsatz von Johannes Paul II. Wer die Gegenwart kritisch in seine Überlegungen einbezieht, wir auch erkennen, dass man sich für diese Freiheit engagieren muss. Dass sie offensichtlich keine Selbstverständlichkeit ist und gegen negative Einflüsse von außen und innen verteidigt werden muss.
Auch wenn noch nicht jeder restlos glücklich sein mag, auch wenn es Schwierigkeiten gibt, die noch bewältigt werden müssen, wichtige Schritte sind getan, und dafür dürfen wir dankbar sein.
Aufgabe für die Zukunft
Was für den Staat und die Gesellschaft gilt, das hat auch in den kleineren Gemeinschaften Berechtigung, in denen wir leben. Auch in unseren Gemeinden, unseren Ortsgemeinschaften und unseren Familien muss unser Miteinander von dem Bewusstsein getragen sein, dass der Mensch von Gott geschaffen und zur Ewigkeit berufen ist. Diesem auserwählten Geschöpf Gottes gilt es mit Respekt und Achtung zu begegnen, unabhängig von seinem Alter, seiner Herkunft, seinem Geschlecht und seinem Leistungsvermögen. Eine Gemeinschaft, die das berücksichtigt und die weiß, dass sie nicht alles von sich selbst erwarten muss, sondern auf Gott vertrauen darf, kann gelingen.
Als Christen auf den Tag der Deutschen Einheit schauen, heißt sich bewusst machen, dass Gott der Herr des Lebens ist und dass er uns einlädt, gemeinsam mit unseren Mitbürgern an der Zukunft zu bauen, einer Zukunft, die christlicher Werte und Hoffnung auf den Beistand Gottes bedarf, einer Zukunft, die getragen sein sollte von Achtung und Respekt voreinander und dem Willen, einander und die Gemeinschaft zu fördern, wo es notwendig ist.
Eine solche Grundeinstellung kann man nicht erzwingen, nicht mit Gesetzen verordnen, sie muss aus dem Herzen kommen, muss vom Einzelnen bejaht und gewollt sein. Es geht dabei nicht nur um das gesetzlich Erlaubte, sondern um das, was gut und sinnvoll ist.