Damit die Türen wieder aufgehen
Der 1. Juni war für unsere Pfarrei St. Nikolaus in Kiew ein besonderer Tag. Für den 1. Juni 2022 war nämlich seitens der Regierung, die offizielle Rückgabe unserer Kirche an die Gemeinde angekündigt worden.
St. Nikolaus ist die zweitälteste katholische Kirche in Kiew. Die Kommunisten haben sie der Pfarrei 1938 weggenommen. Sie diente unter anderem als Lagerhalle, als Archiv und später auch als Konzertsaal. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1992 können wir die Kirche zwar wieder für Gottesdienste nutzen, aber wir sind praktisch nur Gast in unserer eigenen Kirche, denn die Eigentumsfrage ist immer noch ungeklärt. Das sollte am 1. Juni eigentlich geändert werden. Aber eine Woche vor dem Termin stellte sich heraus, dass das Ministerium für Kultur und Informationspolitik keine Zeit hatte, die bürokratischen Verfahren abzuschließen. Trotzdem wurde der Tag feierlich begangen, in Anwesenheit vieler hochgestellter Persönlichkeiten aus Kirche und Politik
Enteignung und Vernachlässigung
Die kommunistischen Behörden hatten den Schlüssel der Kirche am 21. März 1938 eingezogen. Von da an waren die Türen von St. Nikolaus für die Gläubigen verschlossen. Als die Ukraine ihre Unabhängigkeit wiedererlangte, beteten die Gläubigen monatelang vor der Kirchentür; 31 Jahre lang baten sie um die Rückgabe des Schlüssels, damit die Kirche jeden Tag für die Gläubigen geöffnet werden kann; doch die neuen „Eigentümer“, die das Gebäude vor Jahren besetzt hatten und es als Konzertsaal nutzten, weigerten sich. Heute kann man mit bloßem Auge sehen, wohin diese Pseudo-Eigentümer das Kirchengebäude geführt haben. Es ist dringend renovierungsbedürftig. Wir warten darauf, es wiederherstellen und mit sakralen Kunstwerken ausstatten zu können, die im Laufe der Jahre entfernt wurden. Damit das möglich ist, müssen wir aber Eigentümer der Kirche sein, sonst sind uns die Hände gebunden.
Ein Ort der geistlichen und humanitären Hilfe
Als am 24. Februar 2022 in Kiew die Sirenen ertönten und die ersten Explosionen zu hören waren flohen viele Menschen aus der Stadt. Wir Oblaten und ein Teil der Gemeinde blieb zurück, um die Kirche zu verteidigen und vor dem Allerheiligsten zu beten. Die Kirche blieb auch geöffnet, als die russische Armee auf Kiew vorrückte. Viele Menschen kamen und suchten Unterstützung, sowohl geistlich als auch sehr praktische. St. Nikolaus wurde so zu einem Ort humanitärer Hilfe. Bis heute werden von hier aus Hilfsgüter an Orte aktiver Kriegshandlungen geschickt. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges konnten wir über 300 Tonnen Hilfsgüter an Bedürftige versenden bzw. hier vor Ortverteilen.
Enttäuschte Erwartungen
Vor dem Hintergrund der Geschichte unserer Kirche haben wir den 1. Juni mit großer Spannung erwartet. Zu Beginn der Feier habe ich als Pfarrer der Gemeinde dem Bischof den bereits erwähnten Kirchenschlüssel symbolisch übergeben und ihn gebeten ihn zu segnen.
An diesem Schlüssel, den wir seit Kriegsbeginn in der Pfarrei verwahren, ist ein Kreuz befestigt. Jesus hat den Tod und Satan am Kreuz besiegt; das Kreuz ist der Schlüssel, mit dem er die Tür zum Paradies geöffnet hat. Deshalb haben wir den Bischof gebeten auch die Türen der Kirche zu segnen, damit sie von nun an und für immer geöffnet sind.
In seiner Predigt wies Bischof Vitaly Kryvytsky darauf hin, dass die St. Nikolauskirche wie das gesamte ukrainische Volk sei: geduldig, verwundet, aber trotz aller Leiden mutig und unnachgiebig. „Wir haben uns in dieser Kirche versammelt, um einen Schritt vorwärts zu machen“, so der Bischof. Ursprünglich sollte ja an diesem Tag die Kirche vollständig an unsere Gemeinde zurückgegeben werden. Dazu der Bischof: „Natürlich hatten wir andere Pläne, aber das hatten wir vor dem Krieg alle. Wir hatten geplant, dass dieser Tag der Tag der vollständigen Übergabe des Kirchengebäudes sein sollte, aber diese Pläne wurden durchkreuzt. Ja, wir Menschen sind dem Papier verfallen. Aber es gibt Zeiten, in denen das Papier nicht entscheidet. Heute möchte ich alle ermutigen, dass diese Kirche kein Hindernis ist, sondern ein Ort der Heilung, den jeder Ukrainer heute braucht. Mögen ihre Türen jederzeit offen sein, dass sie Tag und Nacht allen Bedürftigen dient".
Wichtige Schritte nach vorn
Nach der Feier der hl. Messe erklärte der Kultusminister der Ukraine, Oleksandr Tkachenko: „Es ist gutes Symbol, dass wir heute hier gemeinsam diesen Gottesdienst feiern; es besteht kein Zweifel, dass dies fortgesetzt wird, und ich hoffe, dass etwaige Rechtsstreitigkeiten in naher Zukunft beigelegt werden können“.
Als Pfarrer der Gemeinde konnte ich diesen Worten nur beipflichten und deutlich machen, dass einer Übergabe der Kirche an die Gläubigen heute weder rechtliche noch moralische Hindernisse entgegenstehen. Ich habe deshalb in Anwesenheit der höheren Beamten betont, dass unsere Kirchengemeinde nun die Verantwortung über die St. Nikolauskirche übernimmt und sich als rechtmäßigen Eigentümer betrachtet.
Aus diesem Grund haben wir auch beschlossen ab dem 2. Juni die Kirche von morgens bis abends für alle Menschen guten Willens zu öffnen. Ein großer Schritt ist getan, jetzt fehlen nur noch die Verträge, die offiziell bestätigen, dass St. Nikolaus wieder unserer Gemeinde gehört.
Konkathedrale
Verliert eine Kathedrale ihren Rang als Bischofskirche, weil der Bischofssitz verlegt oder durch den Zusammenschluss mit einem anderen Bistum überflüssig wurde, kann sie als zweite Kathedrale des Bistums weitergeführt werden. Man spricht dann auch von Konkathedrale oder Ko-Kathedrale.