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Mazenodfamilie
Im Gespräch
Paraguay
Montag, 5. Dezember 2022
Mission in Lateinamerika

Wann ist man ein vollwertiger Missionar?

Maximilian Röll

Pater Fritz, Sie haben über die Mission bei den Nivaĉle mehrere Bücher geschrieben. Wie begann die Mission damals?

P. Miguel Fritz

Die ersten Oblaten sind mit der Idee nach Paraguay gegangen, dass sie Seelen retten müssen. Einer von ihnen, Josef Otto OMI, hat schon auf der Überfahrt mit dem Schiff 20 Seiten darüber verfasst, wie die Mission auszusehen hat.

Die Nivaĉle hingegen haben nie um Missionare gebeten. Die wussten gar nicht, was das ist. Ich habe für eines meiner Bücher eine Reihe der ältesten Nivaĉle interviewt, die noch erlebt haben, wie die ersten Missionare angekommen sind. Und mir fiel auf: Die haben alle erzählt, was die mitgebracht haben. Im Verständnis der Nivaĉle ist ein Missionar jemand, der etwas mitbringt. Was bringen die mit: Einen Haufen Dinge, die man nicht kannte, nicht brauchte, aber die ganz interessant sind: Kleider, Motorsägen, Mehl und Zucker beispielsweise.

Die Idee der Missionare, Seelen zu retten, war also nicht der Gedanke der Nivaĉle. Ohne das direkt ins Wort heben zu können, haben die Indigenas jemanden gesucht, der ihr Leben und ihre Kultur rettet. Und die Nivaĉle haben ihr Ziel erreicht. Im Laufe meiner Studien ist mir klar geworden: Wenn die Oblatenmissionare nicht gekommen wären, gäbe es heute keine Nivaĉle mehr. Es gab zum Beispiel eine schriftliche Anordnung von Bolivien, sie auszurotten. Als die Soldaten kamen, sind die Indigenas in die Missionsstation geflüchtet; die Missionare haben sich zwischen sie und die Soldaten gestellt.

Maximilian Röll

Rettung der Seelen und Rettung einer Kultur, das sind aber sehr unterschiedliche Ansätze. Wie sind die Missionare damit umgegangen?

P. Miguel Fritz

Für die Oblaten bedeutete das eine Umstellung. Sie kamen ja, um zu taufen. Und das war auch die Erwartungshaltung der Kongregation ProPropaganda Fide in Rom, die an der Kurie für die Missionen zuständig war. Die Oblaten in Paraguay wurden deswegen von dort gefragt, wieso eine Mission eingerichtet, aber keine Taufen vermeldet wurden.

Die Missionare konnten aber nicht schneller vorgehen: Es gab Überschwemmungen, Brände, auch den Chaco-Krieg (1932–1935); das alles hat die Missionsarbeit vor Ort behindert. Erst nach 10 Jahren konnte mit einem Katechumenat angefangen werden, das wiederum fünf Jahre in Anspruch genommen hat – normal sind es drei. Erst 1940 gab es die ersten Taufen; am Anfang waren das noch ganz wenige.

Maximilian Röll

Können Sie die Entwicklung des Missionsverständnisses skizzieren?

P. Miguel Fritz

Traditionell ging es bei der Mission darum: möglichst schnell möglichst viele Leute zu taufen. Das war im Chaco nicht so. Und das war ein Glücksfall. Denn weil wir uns so viel Zeit gelassen haben, hat der Glaube eine feste Basis erhalten.

Für uns geschieht Mission heute in vier Phasen:

Erstens: Vorverkündigung: In dieser Phase geht es darum: Wenn die Menschen uns brauchen und rufen, dann kommen und helfen wir, ohne andere Intentionen. Schon in dieser Phase sind wir vollwertige Missionare.

Zweitens: Die Indigenas haben die Erfahrung gemacht: Wenn die Weißen kommen, dann wollen sie uns etwas wegnehmen: unser Land, unsere Kenntnisse, unsere Mädchen. Aber die Missionare, die kommen, die sind anders. Und dann beobachten sie. Und dann kommt irgendwann die Frage: Wieso kommst du? Und da ist der Punkt, an dem Jesus erwähnt wird. Das ist Kerygmatik.

Drittens: Wenn dann der Zeitpunkt kommt, wo sie sagen, darüber möchte ich gerne mehr erfahren, dann kommen wir in die katechumenale Phase. Da geht es um Glaubensunterweisung.

Viertens: Eine autochthone Kirche haben wir dann erreicht, wenn die Menschen selbst Verantwortung in der Gemeinde übernehmen, im Idealfall mit eigenen Priestern und Ordensleuten. Soweit sind wir noch nicht: Es gibt derzeit nur zwei Indigena- Priester und zwei Ordensschwestern. Diese sind aber keine Nivaĉle.

Die frühen Missionare standen der Kultur der Missionierten sehr kritisch gegenüber. Deswegen gab es in vielen Missionsstationen auch Internate, wo die Kinder systematisch der Kultur ihrer Herkunft entfremdet wurden. Das war glücklicherweise bei uns im Chaco nicht so ausgeprägt; wir hatten nur kurz ein Internat und da wird überwiegend positiv drüber gesprochen. Die Perspektive heute ist eine andere: Wir ermutigen die Menschen, ihre eigene Kultur zu leben und danach zu suchen, wie sie darin Christ sein können.

Maximilian Röll

Wir sprechen von den Staaten Lateinamerikas als Missionsländer. Dabei sind diese Gebiete vor 500 Jahren von Europa kolonisiert worden. Wieso handelt es sich immer noch um Missionsländer?

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P. Miguel Fritz

Das kann man an der Marienfrömmigkeit gut zeigen. Unter dem Deckmantel Marias wurden viele traditionell- pagane Vorstellungen weiter tradiert. Wenn man sich etwa Marienstatuen in Lateinamerika anschaut, dann haben die ganz häufig die Form einer Pyramide; also eines Berges. Berge haben eine tiefe religiöse Bedeutung. Die geistliche Kraft, die man in Bergen gesehen hat, hat man in Maria verortet. Das sind heute natürlich unbewusste Prozesse, die aber über Generationen mittransportiert wurden.

Dieses Verbergen von eigenen Elementen im Fremden hat dazu geführt, dass es zwar eine ausgeprägte christliche Praxis gibt, die stark vom iberischen Katholizismus geprägt ist. Aber die christlichen Werte haben noch keine Wurzeln geschlagen. Viele Länder Lateinamerikas sind etwa von Gewalt und Korruption geprägt. Viel zu viel vom spezifisch europäischen Christentum wurde in diese Kulturen hineingetragen. Es wurde ihnen viel zu wenig das Vertrauen geschenkt, dass sie das Evangelium selbst für sich entdecken und sie es selbst in ihre Kultur integrieren können. Und so sind wir weiterhin Missionsland.

Maximilian Röll

Was sind die wichtigsten Herausforderungen, mit denen der Katholizismus in Paraguay konfrontiert wird?

Von 1954 bis 1989 regierte Alfredo Stroessner Paraguay diktatorisch. Damals war die Rolle der Kirche sehr klar: Sie war Opposition, die einzig glaubwürdige Informationsquelle, der Rückhalt und Schutz für die Menschen. Das gab der Kirche eine richtig starke Stellung. In dem Moment, wo die Diktatur weg war, hat die Kirche diese Rolle verloren und keine ähnlich einprägsame gefunden.

Ein anderes Thema ist die Frage von Inkulturation. Viele Priester werden in ihrem Studium der alten Mythen entfremdet, an die etwa ihre paraguayischen Eltern glauben. Der Katholizismus hat deswegen auf viele Vorstellungen der Menschen noch keine pastoral tragende Antwort gefunden. Ich finde es sehr wichtig, dass die Botschaft des Evangeliums kulturell verortet wird.