Wo viele Religionen eine Heimat haben
Die Ukraine ist seit Jahrhunderten ein Zwischenraum, der durch die umliegenden Staaten immer wie- Weltkirche der neu zusammengesetzt wird: Rus und Russen, Tataren und Osmanen, Polen und Österreicher haben ihre Spuren hinterlassen. In seinen heutigen, völkerrechtlich anerkannten Grenzen existiert die Ukraine seit 1991, als die Sowjetunion zerfiel.
Diese komplexe Gemengelage hat sich auch auf die religiöse Verfasstheit des Landes ausgewirkt. Es ist ein Ort, an dem drei Weltreligionen eine Heimat haben: Christen, in unterschiedlichen orthodoxen und katholischen Konfessionen, der Islam im Süden und das einst über den größten Teil des Landes verstreute Judentum.
Kurzer historischer Überblick
Die Keimzelle des ukrainischen Staates liegt in der Kiewer Rus, einem Reich, das sich im 9. Jahrhundert zwischen Dnepr und Don bildete; in seiner Blütezeit umfasste es weite Teile der Ukraine und Weißrusslands. Dieser Staat ging nach einem langen Schwächungsprozess im Mongolensturm des 13. Jahrhunderts unter. Seit dem ausgehenden Mittelalter war das Territorium im Wesentlichen in drei Teile gespalten: Im Osten die Gebiete des Großfürstentums Moskau, das seine Grenzen im Laufe der Jahrhunderte immer weiter nach Westen vorschob; die Herrschaft der Krimtataren in der südlichen Ukraine und die polnischlitauischen Gebiete im Westen, die zwischenzeitlich den größten Teil der Ukraine bis nach Kiew umfassten.
Im Rahmen der polnischen Teilung und der Expansion des russischen Zaren - reiches kamen fast alle diese Territorien bis zum 19. Jahrhundert an Russland, abgesehen vom äußersten Südwesten um Lemberg, der zu Österreich-Ungarn gehörte. Nach dem Ersten Weltkrieg ging dieser Teil an Polen, der Rest in der Sowjetunion auf. Erst mit der Grenzverschiebung nach dem Zweiten Weltkrieg kamen alle ukrainischen Territorien in eine Hand.
Keimzelle der slawischen Orthodoxie
Die Anfänge des Christentums in der heutigen Ukraine liegen schon in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten an der Küste des Schwarzen Meeres. Dort sind schon früh christliche Gemeinden im Einflussbereich des römisch-byzantinischen Reiches nachweisbar. Freilich blieb das Christentum zunächst auf diesen Kulturraum beschränkt.
Das änderte sich mit der Kiewer Rus. Über den Dnepr betrieb sie Handel bis ins Schwarze Meer mit dem byzantinischen Reich und bildete so enge Kulturkontakte. Auch im Kiewer Reich gab es wohl schon seit dem neunten Jahrhundert erste Christen.
Zu Bedeutung kam das Christentum unter Großfürst Wladimir I. (980–1015). Er suchte eine Staatsreligion, um sein Reich zu einen.
Wesentlich wohl aus diplomatischen Gründen und aufgrund der bestehenden Kontakte zum byzantinischen Imperium entschied er sich für das orthodoxe Christentum und ließ sich 988 taufen. In den kommenden Jahrhunderten verbreitete es sich in seinem Herrschaftsraum. Kiew steht damit am Beginn der ostslawischen Orthodoxie. Die beherrschende kirchliche Stellung hatte der Metropolit von Kiew inne. Durch den Zerfall des Reiches wurde der Sitz des Metropoliten mehrfach verlegt, bis er sich schließlich in Moskau zum Patriarchat weiterentwickelte. Seit 1688 ist das Gebiet der orthodoxen Ukraine daher dem Moskauer Patriarchat unterstellt, als der Patriarch von Konstantinopel, Dionysius IV., dem Primas der russischen Kirche das Recht gab, den Kiewer Metropoliten zu ernennen.
Die unierte Kirche
Von der Orthodoxie löste sich im 16. Jahrhundert die ukrainische griechischkatholische Kirche. In der Union von Brest unterstellten sich 1596 mehrere Bischöfe auf dem Gebiet Polen-Litauens der Jurisdiktion des Papstes, behielten aber ihre Liturgie und Traditionen bei. Von den katholischen Herrschern Polen- Litauens gefördert, geriet die Kirche seit der ersten polnischen Teilung 1772 in eine Krise; das russische Zarenreich überführte die unierten Strukturen weitgehend wieder in die Orthodoxie. Lediglich in Galizien, das zu Österreich gehörte, bestand die unierte Kirche unbeeinträchtigt weiter. In sowjetischer Zeit wurde sie mit den Orthodoxen zwangsvereinigt, ihre Bischöfe und Priester verfolgt. Am bekanntesten wurde der Erzbischof von Lemberg, Jossyf Slipyj, der nach seiner Entlassung 1963 ins Exil nach Rom ging und 1965 zum Kardinal erhoben wurde. 1989 wurde die unierte Kirche wieder zugelassen. Oberhaupt ist heute der Großerzbischof von Kiew und Halytsch, Swjatoslaw Schewtschuk.
Das Judentum
Bis zum Zweiten Weltkrieg und der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus war die Ukraine eines der wichtigsten Siedlungsgebiete des östlichen Judentums. Schon in hellenistischer Zeit sind jüdische Gemeinden an der Küste des Schwarzen Meeres bezeugt. Auch gehörten Teile des Landes zwischenzeitlich zum Reich der Chasaren, die im achten und neunten Jahrhundert zum Judentum konvertierten.
Prägend für unsere heutigen Vorstellungen vom Judentum in der Ukraine waren vor allem die Entwicklungen im damaligen Herrschaftsbereich des Königtums Polen-Litauen. Seit dem 14. Jahrhundert flohen zahlreiche Juden aus Mitteleuropa in das Königreich Polen. Dort galten weitgehende Glaubens- und Handelsfreiheiten. Das ukrainische Judentum hatte daher seine wichtigsten Zentren in der Westukraine, in Galizien, in Podolien und Wolhynien.
Einen prägenden religiösen Einfluss innerhalb des Judentums bildete die Bewegung des Chassidismus, die seit 1740 auf den Rabbi Baal Schem Tow zurückgeführt wird. Seit im 18. Jahrhundert der größte Teil des Landes an Russland gefallen war, galt für die Juden ein Ansiedlungsrayon: ein Gebiet, in dem sie sich niederlassen durften; er umfasste weite Teile der heutigen Ukraine. Zwischenzeitlich machten die Juden bis zu 15 % der Bevölkerung aus. Das Ende des jüdischen Lebens kam mit dem deutschen Überfall auf Polen und die Sowjetunion: Der Vernichtungspolitik fiel die Mehrzahl der Juden in diesen Gebieten zum Opfer.
Der Islam
Jahrhundertelang waren große Teile der südlichen Ukraine islamisch geprägt. Die Krimtataren, sie gehörten zum sunnitischen Islam, beherrschten die nördlichen Küsten des Schwarzen Meeres. Das begann mit der Eroberung von weiten Gebieten der Südukraine durch die Mongolen im 13. Jahrhundert. Aus deren Reich bildeten sich in den nächsten Jahrhunderten unterschiedliche Nachfolgestaaten. Unter anderem entstand im 15. Jahrhundert das Reich der Krimtataren, die nach ihrem Zentrum, der ukrainischen Halbinsel Krim, benannt sind. Schon kurz nach seiner Entstehung verbündete sich dieser Staat mit dem osmanischen Reich und blieb mit diesem in den nächsten Jahrhunderten eng verbunden. Im 18. Jahrhundert expandierte Russland verstärkt in dieser Region. Das Zarenreich unterwarf bis 1784 die Gebiete des Khanats.
Streit unter Brüdern
Das aktuellste Kapitel in der Religionsgeschichte der Ukraine hängt mit der Abhängigkeit der ostslawischen Orthodoxie von Moskau zusammen. Seit Jahrhunderten gehörte die Ukraine zum Moskauer Patriarchat. Das änderte sich mit dem Zerfall der Sowjetunion und den Bestrebungen von Teilen der ukrainischen Kirche, eine eigene Nationalkirche zu entwickeln, so wie die meisten orthodoxen Gemeinschaften organisiert sind.
Seit den Neunzigerjahren gehören Millionen Ukrainer zwei abgespaltenen Gruppen an, dem „Patriarchat von Kiew“ und der „Autokephalen Kirche“. Beide wurden aber von der übrigen Orthodoxie nicht anerkannt, die weiterhin die „ukrainische orthodoxe Kirche“, die zum Moskauer Patriarchat gehört, als rechtmäßige Gemeinschaft ansah.
Auf Drängen einiger ukrainischer Kirchenvertreter und der politischen Führung in Kiew bestätigte 2019 der Patriarch von Konstantinopel, als Ehrenoberhaupt der Orthodoxie, die Unabhängigkeit der ukrainischen Kirche, die sich 2018 aus den beiden abgespaltenen Gemeinschaft gebildet hatte. Damit widerrief Bartholomäus den Vertrag von 1688, der die Ukraine dem Moskauer Patriarchat zusprach.
Als Reaktion brach der Patriarch von Moskau die Gemeinschaft mit den aus seiner Sicht abtrünnigen Bischöfen und dem Patriarchat von Konstantinopel ab. Damit hat sich die Orthodoxie entlang der Ukraine-Frage gespalten.
Fotos:
Header Bild: Misha Reme, Wikimedia Commons
Karte: Maksim, Wikimedia Commons
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Bakhchisaray: Neovitaha777, Wikimedia Commons