Braucht es den Sonntag noch?
Wer nach Israel reist, kann dort den Sabbat-Modus in Fahrstühlen erleben: Die Aufzüge halten an jeder Etage automatisch, aber nur am Sabbat. Denn an diesem Tag dürfen Juden kein Feuer machen. Bei einem elektrischen Vorgang wie dem Betätigen eines Knopfes könnte aber ein Funke entstehen, also würde man Feuer machen.
Was den Juden der Sabbat ist, das ist den Christen der Sonntag. Sagt man gemeinhin. Aber das Beispiel des Sabbat-Aufzugs zeigt: An den besonderen Charakter des Sabbats reicht der christliche Sonntag nicht heran. Dabei ist dieser Tag auch für die Christen wichtig: Nicht nur, weil man da am häufigsten den Gottesdienst besucht – wenngleich das für die überwiegende Mehrzahl der Gläubigen schon lange nicht mehr gilt. Für die meisten ist es wichtiger, dass sie sich an diesem Tag anderen Dingen als der Arbeit widmen können, etwa Zeit mit der Familie verbringen. Was so traditionell klingt, ist dabei eine relativ neue Erscheinung.
Niemals ein freier Tag für alle
Jahrtausendelang lebte die Mehrheit der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Das galt auch für Europa bis ins 19. Jahrhundert. Damit gibt der Rhythmus von Natur und Wetter den Arbeitstakt vor: Das Vieh will jeden Tag versorgt werden, und wenn die Ernte ansteht, steht die Ernte an.
Oder die Hausangestellten, die in den Häusern der gehobenen Schichten für Ordnung und Komfort sorgten: Sie durften sonntags häufig nicht mal zur Messe, damit die Herrschaft nach dem Kirchgang schon alles für das Mittagessen bereitet fand. Von arbeitsfreien Tagen ganz zu schweigen.
Was bedeutet das überhaupt: arbeitsfrei? – doch eigentlich nur frei von Erwerbsarbeit. Die Kinder wollen sieben Tage die Woche bespielt, die pflegebedürftigen Eltern immer versorgt werden – Care-Arbeit nennt man das heute. Und den Sonntagsbraten muss auch jemand in den Ofen schieben.
Doch wenn man Arbeit als Erwerbsarbeit verstehen will, dann setzt im 19. Jahrhundert ein Umdenken ein: Der Sonntag soll wirklich arbeitsfrei werden. So wird 1871 im Deutschen Reich ein Gesetz verabschiedet, das die Arbeit an Sonntagen in Fabriken und Bergwerken verbot. Ein weiteres Gesetz dehnte 1900 die Sonntagsruhe auf weitere Gewerbe aus. Aber erst 1919 garantierte die Weimarer Reichsverfassung den „freien Sonntag“ als Grundrecht: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“
Seitdem genießt der Sonntag in Deutschland einen besonderen Schutz. Es gibt allerdings einige Ausnahmen von diesem Verbot: So ist die Sonntagsarbeit in bestimmten Branchen erlaubt, etwa im Gastgewerbe, im Gesundheitswesen und im Verkehrswesen. Für die Arbeit an einem Sonn- oder Feiertag muss der Arbeitnehmer einen Ersatzruhetag bekommen. Grundsätzlich gilt: An wenigstens 15 Sonntagen im Jahr muss die Ruhe eingehalten werden, im Gastgewerbe müssen es wenigstens 10 Sonntage sein.
Im internationalen Vergleich steht Deutschland damit gut da: Während der Sonntag in Europa in den meisten Ländern rechtlich geschützt ist, gilt das nicht für die USA und schon gar nicht für Staaten ohne christliche Tradition wie China oder Japan.
Doch wird immer häufiger die Frage gestellt, ob die Sonntagsruhe noch zeitgemäß ist.
Mehr Flexibilität gewünscht
Denn mit dem Wirtschaftswunder der 1950er-Jahre wuchs die Bedeutung des Sonntags als Tag des Konsums. Zudem wird die Gesellschaft individueller: Ein Tag für alle, an dem fast alle gezwungen werden, nicht zu arbeiten – das erscheint manchen daher nicht mehr zeitgemäß. Denn der Sonntag bringt auch Einschränkungen mit sich.
In meiner Jugendzeit war es noch üblich, dass man sich beim Bäcker am Sonntag keine Brötchen holen konnte – der Toaster half da aus. Das ist heute anders, frische Brötchen gibt es sieben Tage die Woche. Aber dennoch: Alles kaufen, was man möchte, das geht am Sonntag nur im Internet. Viele empfinden das als unpraktisch, denn jetzt hätten sie mal Zeit zum Shoppen.
Bei manchen entsteht durch die Entkopplung von Arbeitsort und Arbeitszeit zudem der Drang, jederzeit der Arbeit nachgehen zu wollen – auch am Sonntag.
Ein weiterer Aspekt: Deutschland wird immer weniger christlich, immer mehr Menschen gehören einer anderen Religion an und haben daher andere Ruhetagsbedürfnisse. Für Muslime wäre der Freitag als Ruhetag praktischer.
Ein Takt für die Gesellschaft
Dabei gibt es gute Gründe für einen arbeitsfreien Sonntag für (fast) alle:
Man muss diesen etwa nicht verhandeln. In den USA sind Arbeitgeber zwar verpflichtet, auf religiöse Bedürfnisse ihrer Angestellten Rücksicht zu nehmen. Aber im Zweifel muss man den arbeitsfreien Sonntag einklagen. Dadurch, dass (fast) alle frei haben, ergibt sich die Möglichkeit, besser zu planen: Ehepartner sind gemeinsam zu Hause, die Kinder müssen nicht in die Schule, Großeltern oder Freunde haben ebenfalls Zeit für gemeinsame, schöne und erholsame Aktivitäten.
Denn eines ist klar: Erholung ist ein Grundbedürfnis des Menschen. In einer Zeit, da die Erholung nicht mehr durch die Natur vorgegeben wird, muss die Gesellschaft diesen Rahmen stellen – so wird der Sonntag noch wichtiger als früher.