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Mittwoch, 8. Februar 2023
Armut hat viele Gesichter

Ausgeschlossen, hungrig, abgehängt

Lena sitzt traurig auf dem Schulhof. Sie fühlt sich arm, ausgeschlossen. Ausgeschlossen, weil gerade die neueste Kollektion ihrer Lieblingsinfluencerin auf Tiktok präsentiert wurde und alle gleich mit dem Rabattcode die neuesten Klamotten online gekauft haben; alle, bis auf Lena.

Ihre Eltern waren nicht der Meinung, dass sie den neuen Style braucht; der Schrank in ihrem Kinderzimmer quillt ja so schon über. Dabei ist das so wichtig. Aber das verstehen ihre Eltern nicht. Die wollen nicht die 250€ für das Komplett- Set aus T-Shirt, Rock, Jacke und der passenden Tasche ausgeben; dabei wäre es durch den Rabatt- Code sogar 20 Prozent billiger. Ihre Eltern glauben aber, jetzt, wo die Energiepreise die Heiz- und Stromkosten ihres Hauses derart in die Höhe getrieben haben, da müsse man mehr aufs Geld schauen. Sie verstehen nicht, wie Lena in ihrer Clique damit dasteht.

Man kann in Lena einen verwöhnten Teenager sehen mit Luxusproblemen. Aber könnte Lena nicht auch ein Gesicht für Armut sein?

Laut Johannes Chrysostomos schon. Der Kirchenvater hat Lenas Situation schon vor 1500Jahren beschrieben: „Reich ist nicht, wer viel hat, sondern wer wenig braucht – arm ist nicht, wer wenig hat, sondern wer viel begehrt.“

Gefühlte Armut

Johannes Chrysostomos spricht hier das Problem der gefühlten Armut an. Sie ist am schwierigsten zu fassen. Denn sie lässt sich nicht an Zahlen festmachen, da sie auf der emotionalen Verfassung des Betroffenen beruht. Aber dennoch: Auch gefühlte Armut schafft Leiden und wirkt sich negativ auf die Lebensqualität aus. Für viele Betroffene unterscheiden sich die emotionalen und sozialen Folgen kaum von einer relativen Armut.

Wie berechnet sich das Medianeinkommen?

Stellen Sie sich vor, alle 83 Millionen Einwohner Deutschlands stellen sich in einer Reihe auf. Die Reihenfolge ergibt sich aus dem gewichteten Einkommen, das nach einem bestimmten Haushaltsschlüssel berechnet wird. Das Medianeinkommen ist dann das Einkommen der Person, die genau in der Mitte der Reihe steht. Das heißt, die eine Hälfte der Bevölkerung hat ein höheres, die andere ein niedrigeres gewichtetes Einkommen als diese Person.

In der Bundesrepublik ist der Hauptrisikofaktor für Armut Arbeitslosigkeit. Mehr als die Hälfte aller Erwerbslosen ist armutsgefährdet. Auch Menschen im Ruhestand sind überdurchschnittlich bedroht, insgesamt 17,4 Prozent. Noch schlechter stehen Alleinerziehende da, die mit 26,6 Prozent ausgewertet sind. Aber auch Familien mit mehr als drei Kindern sind überdurchschnittlich häufig vor diesem Phänomen betroffen, hier sind es 23,6Prozent.

Ein weiterer relevanter Faktor, der Menschen in der Armut hält, ist der Bildungsstand:  Je höher der Bildungsgrad, umso weniger ist jemand von Armut betroffen. Dabei fällt auf: In den vergangenen Jahren hat sich der Unterschied zwischen mittlerem und hohem Bildungsstand in Bezug auf Armut weiter vergrößert.

Folgen von Armut

Die Folgen der Armut in Deutschland sind vielschichtig. Sie reichen von schlechter Ernährung, mangelhafter gesundheitlicher Versorgung bis zu Wohnungslosigkeit, sie bedeuten häufig Ausgrenzung und soziale Isolation; Betroffene können nicht vollumfänglich am gesellschaftlichen Leben teilhaben, da das Geld dafür fehlt. Entsprechend sind in der Gruppe der Armen psychische Krankheiten und Depressionen besonders häufig anzutreffen. Auch chronische Erkrankungen wie Diabetes, Bronchitis, Herz-Kreislauf-Erkrankungen treten hier deutlich vermehrt auf.

Studien haben dabei gezeigt, dass sich die gesundheitlichen Auswirkungen zwischen relativer und gefühlter Armut kaum unterscheiden. Entscheidend ist vor allem das Empfinden der Menschen selbst. Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erkranken etwa ältere Menschen, die sich selbst als arm einschätzen, deutlich häufiger als Menschen, die dies nicht tun: der Wert ist um 38 Prozenthöher.

Absolute Armut

Die extremste Form ist die absolute Armut: Davon sind Menschen betroffen, wenn sie nicht mehr genug Nahrung für sich und ihre Familien kaufen können, um satt zu werden, und sich auch andere Artikel destäglichen Bedarfs nicht mehr leisten können. Die Weltbank hat 2015 eine Grenze von 1,90 US-Dollar pro Tag berechnet; stehen diese nicht zur Verfügung, gilt man als absolut arm. Allerdings ist dieser Wert umstritten. Je nach Region kann etwa Nahrung unterschiedlich viel kosten, sodass ein globaler Wert schwierig zu ermitteln ist. Dennoch geben die 1,90US-Dollar einen groben Wert an. Demnach geht die UN für das Jahr 2017davon aus, dass ca.10 Prozent der Weltbevölkerung in absoluter Armut lebt, das waren damals fast 700 Millionen Menschen.

Den höchsten Anteil absolut Armer in der Bevölkerung wies 2012 Madagaskar auf mit 77,8 Prozent der Bevölkerung, gefolgt von der Demokratischen Republik Kongo mit 77,1 Prozent der Bewohner.

Freilich hat der Kampf gegen die Armut in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht. So galten 1981 noch 42,2 Prozent der Menschenweltweit als absolut arm; das waren relativ gesehen deutlich mehr. Dieser Erfolg geht besonders auf die Entwicklungen in Ostasien, gerade China, und Südasien, etwa Indien, zurück. Für Ostasien und den Pazifik wurden 1981 80,7 Prozent der Bevölkerung als absolut arm ausgewiesen, 2017 nur noch 1,4 Prozent.

Anders sieht es in Subsahara-Afrika aus. Hier liegen die ersten Gesamtwerte für 1990 vor und lagen damals bei 54,4 Prozent – ein Wert, der sogar besser war als in Ostasien/Pazifik zum gleichen Zeitpunkt. Doch lag er in Subsahara-Afrika 2017bei noch bei 41,1Prozent. Es hat sich also kaum etwas gebessert.

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Der Teufelskreis der Armut sperrt schon Kinder in der Situation ihrer Eltern ein

Armut – ein Teufelskreis

Das zeigt: Um Armut zu überwinden, braucht es einen gesamtgesellschaftlichen Trend. Fehlt dieser, sind die meisten Armen in ihrer Situation eingemauert. Für viele Menschen wird Armut zu einem Schicksal, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es entsteht ein Teufelskreis aus mangelndem Einkommen, schlechter Gesundheit und einer prekären wirtschaftlichen Lage.

Wer geringes Einkommen hat und in beengten Wohnverhältnissen lebt, wer viel arbeiten muss für wenig Lohn, der kann seine Kinder weniger fördern, sodass sie einen geringeren Bildungsstand als andere haben werden. Weniger Bildung bedeutet aber wiederum weniger Einkommen, wodurch auch weniger Ersparnisse angelegt werden können. Wer sein ganzes Geld für den Konsum benötigt, der kann aber nicht investieren; weder in eigene noch in fremde Unternehmungen. Wenn man bedenkt, dass sich der Börsenwert desdeutschen DAX in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt hat, die Reallöhne aber etwa gleichgeblieben sind, der erkennt, dass auch dieser Weg zu Wohlstand Armen versperrt bleibt. Zugleich ist das Risiko der Armen, in Schulden zu fallen, deutlich höher als bei der übrigen Bevölkerung. Geringes Einkommen, Schulden: Das senkt die verfügbaren Mittel, um hochwertige Lebensmittel zu kaufen, Freizeitangebotewahrzunehmen und verschlechtert langfristig die Gesundheit, was wiederum zu einer geringeren Produktivität führt und sich auf das Einkommen auswirkt.

Armut wird in diesem Modell zum Schicksal ,da die Menschen nicht nur in Armut leben, sondern durch sie zugleich der Ressourcen beraubt werden, aus ihr zu entkommen.

Die Rückkehr der Klassengesellschaft

Das führt dazu, dass die soziale Mobilität, also der Ab- und Aufstieg zwischen den Schichten, in den meisten Gesellschaftennur gering ausgeprägtist. Wobei einige Wissenschaftler für viele Industriegesellschaften mittlerweile wieder von Klassen sprechen.

Die meisten Menschen sind in ihrer Klasse quasi einbetoniert. In Deutschland kann es sechs Generationen dauern, bis die Nachkommen einer einkommensschwachen Familie das Durchschnittseinkommen erreichen, so eine Studie zu 30 Industrie- und Schwellenländern. Das ist ungewöhnlich schlecht. In Dänemark sind es nur zwei Generationen. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 4,5 Generationen. Das bedeutet auch: 58 % der Geringverdiener bleiben für immer arm; nur 9 % der Söhne von Vätern mit geringem Einkommen schaffenden Aufstieg in die höchste Verdienstgruppe.

Aber: wer einmal ein hohes Einkommen erreicht hat, wird es kaum mehr verlieren: 74% aus dieser Gruppe steigen nicht wieder ab. In ihrem dystopischen Roman "Atlas Shrugged" beschreibt Ayn Rand eine ins Chaos taumelnde Welt, die von den erfolgreichen Machern verlassen wurde, die jenseits der Berge auf den Zeitpunkt warten, zurückzukehren. Doch über dieser Rückkehr zeichnen sie das Symbol des Dollars, während sie über all ihre potenziellen Gewinne nachsinnen. Sie begreifen die Ordnung des Chaos nicht als gesellschaftliche Aufgabe, sondern bestenfalls als Nebeneffekt ihres Erfolges.

Das verweist auf ein grundlegendes Problem: Eine Dynamik, die notwendig ist, Armut wirksam zu bekämpfen, bedarf der gemeinsamen Anstrengung aller gesellschaftlichen Gruppen, der unteren und der oberen Schichten. Fehlt diese, bleibt die Überwindung der Armut ein erfolgreicher Einzelfall.